Intelligenz und Sinnlichkeit sind teilweise formbar, Schönheit aber ist angeboren. Er selber sieht sich nicht ungern im Spiegel, sagt sich aber, dass es, was seine Körpergröße betrifft, ruhig noch ein paar Zentimeter mehr sein könnten. Aber auch wenn er nicht so wie die athletischen Stars ist, die auf den Arenen und Bühnen Dänemarks triumphieren, kann er es als ,Mann' wohl mit ihnen aufnehmen. Es gibt ein Miniaturporträt von ihm als kleiner Junge, mit auffallender Stupsnase, um das man ihn schon von mehreren Seiten her bat. Er konnte sich aber nie davon trennen. Fast glaubt er manchmal, auf Hamlets Seite eine Art eifersüchtigen Neid zu bemerken. Das macht ihn verlegen und stört ihre Freundschaft. Wie kann er unbefangen bleiben, wenn er ständig unter eifersüchtiger Beobachtung steht? Manchmal fühlt er sich wie in der Nähe eines Pädophilen, der ein Auge auf ihn geworfen hat.
Es erinnert ihn an die Freundschaft zweier Vierzehnjährigen, von der er bei einem deutschen Erzähler las: Diese Art und Weise, sich selbst und sein Verhältnis zum Leben zu betrachten, spielt eine wichtige Rolle in Hamlets Liebe zu ihm. Er liebt ihn zunächst, weil er schön ist; dann aber, weil er in allen Stücken als sein eigenes Widerspiel und Gegenteil erscheint. Darin steckt, auch wenn sie keine vierzehn mehr sind, ein Gutteil des Geheimnisses ihrer Freundschaft.
Die durch Hamlets Werbung naheliegende Aussicht, einmal Dänemarks Königin zu werden, ist für Ophelia sicher nicht ohne Appeal und überlagert ihre natürlichen Gefühle. Was kann ihr, die früh ihre Mutter verlor und deren Bruder sich meist in der großen Welt von Paris herumtreibt, Besseres passieren, als sich dem Prinzen und kommenden König zu vermählen, den sie von Kindheit an verehrt und bewundert? Fast muss Henri an Hussein und Vanessa denken. So gehen ihre Liebe und ehrgeizigen Hoffnungen auf ideale Weise zusammen. Horatio kann es ihr nicht verdenken und will sich ihre Freundschaft so lang wie möglich erhalten. Nicht dass er – schon Isoldens wegen – absichtlich ihre Gesellschaft sucht, er hat aber auch nichts dagegen, wenn es sie danach verlangt. Dann ist das Zusammensein mit ihr jedesmal eine Lust, die er sich kaum eingestehen darf. Was ist Treue? Warum kann man nicht gleichzeitig zwei Frauen lieben?
Liebe, denkt er, ist eine Willensentscheidung. Man entschließt sich, eine Frau zu lieben, und schließt dadurch alle anderen aus. Eine Myriade liebenswürdiger Geschöpfe wird bewusst ausgeblendet und darf keine Rolle mehr spielen. Liebe ist eine Sache der Vernunft, nicht der Sinne. Die Anarchie des Blutes besteht unverändert daneben fort.
Außerdem ist sie blitzgescheit, wie er bei ihren Lektionen feststellt. Der Kämmerer, der um seine Studien in der Bibliothek weiß, tritt jedesmal, wenn er von Wittenberg her zu Besuch ist, aufs Neue auf ihn zu, damit er ihr – über ihre Lehrer am Hofe hinaus, mit denen sie nicht zufrieden ist – den einen oder anderen Zusatzunterricht gibt. Bestimmt will er sich dadurch, dass er seinen Freund ehrt, auch beim Prinzen einschmeicheln. Er selbst hat in seiner Studentenzeit Theater – unter anderem den Iulius Caesar – gespielt, wodurch er ein gewisses Verhältnis zum, wie er es nennt, ,Schöngeistigen' hat.
Er sei auf dem Kapitol umgebracht worden – Brutus habe ihn umgebracht –, beliebt Polonius zu scherzen und zitiert gern die Stelle aus dem Anfang des zweiten Akts, wo der Verschwörer, seit er den Mord an Caesar plant, kein Auge mehr zutut. Zwischen einer grauenvollen Tat wie dieser, und dem ersten Gedanken daran, sei alle Zwischenzeit wie ein Phantasma oder grauenvoller Traum. Und der Alte deklamiert:
Seit Cassius mich spornte gegen Caesar,
Schlief ich nicht mehr.
Bis zur Vollführung einer furchtbarn Tat
Vom ersten Antrieb, ist die Zwischenzeit
Wie ein Phantom, ein grauenvoller Traum.
Der Genius und die sterblichen Organe
Sind dann im Rat vereint; und die Verfassung
Des Menschen, wie ein kleines Königreich,
Erleidet dann den Zustand der Empörung.
Insurrektion – Aufstand, Volkserhebung – im Original. Der ,Genius' ist die menschliche Vernunft, das souveräne Ich, das vor einer solchen Tat zurückschreckt; die ,sterblichen Organe' sind die körperlichen Werkzeuge zu ihrer Realisierung. Beides liegt dann im Konflikt miteinander, und die menschliche Seele, die aus beidem besteht, ist gleichsam wie im Bürgerkrieg ihrer selbst. Horatio, der Hamlet täglich um sich hat, fragt sich, welch seelischen Aufruhr die geplante Rache an Claudius in ihm erzeugen muss. Findet er überhaupt noch Schlaf?
Opheleia heißt griechisch ,Hilfe', und so nennen sie es spaßeshalber ,Nachhilfe', wenn er Ophelia opheleia gibt. Sie ist immer guter Dinge und kann es kaum erwarten, ihm ihre Probleme vorzulegen. Sie hat bei aller Weiblichkeit Ehrgeiz und will es sichtlich zu etwas bringen. So deckt sie ihn querbeet mit allen möglichen Fragen ein, die, wie sie findet, von ihren scholastischen Magistern nicht, oder nicht befriedigend, beantwortet werden. Es ist aber auch nicht gerade ein Tycho Brahe am Hof. Manchmal, wenn sie so neben ihm sitzt und er im engen Mieder ihre jungen Brüste aufknospen sieht, muss er an sich halten, dass ihm nicht der Atem wegbleibt. Seine Stimme hat dann manchmal eine Art unseliger Heiserkeit, und er hält eine Weile den Mund, bis er sich wieder gefangen hat. Das fehlte noch, dass er sie mit belegter Stimme belehrte!
Sie selber hält ihn für so beschlagen, dass sie sich offenbar gar keine Frage vorstellen kann, die er nicht beantworten könnte. Er muss sich wappnen, um sie nicht zu enttäuschen. So kommt er auf alle Fragen, auf die er aus dem Stand keine Antwort hat, gelegentlich wieder zurück, nachdem er sich zwischenzeitlich kundig machte. Natürlich ist sie toujours religiös erzogen und nicht so weit, ihre Intelligenz kritisch auf die eigene Prägung anzuwenden. Sie schreckt wohl auch intuitiv davor zurück aus Angst, mit den naiven Glaubensvorstellungen ihrer Umgebung in Konflikt zu geraten. Das steht aber nicht störender zwischen ihnen als eine spanische Wand. Er hält sich, wenn sie aus der Schlosskapelle kommt, diskret zurück und behält sich vor, das Versäumte gegebenenfalls auf ihren Wunsch nachzuholen. Allen anderen Problemen gehen sie weitgehendst auf den Grund, mit Ausnahme vielleicht jener Stellen aus der modernen Literatur, die sie nicht unbedingt verstehen muss. Sie übersetzen den römischen Virginia-Mythos und schrecken auch vor der Schändung Lucretias nicht zurück. Denn: Die Geschichte ist , so der Autor des Danton über die französische Revolution, vom lieben Herrgott nicht zu einer Lektüre für junge Frauenzimmer geschaffen worden, und da ist es mir auch nicht übel zu nehmen, wenn mein Drama ebensowenig dazu geeignet ist . Kurz, er erklärt ihr die eine oder andere verfängliche Stelle aus der Literatur immer erst dann, wenn sie ihn ausdrücklich darum bittet, was allerdings selten vorkommt. Entweder will sie es gar nicht so genau wissen, oder sie weiß schon mehr, als er es sich vorstellt. Wie souverän sie wirklich ist, merkt er erst an ihrem Verhalten den Frivolitäten Hamlets gegenüber. Irgendwie ist es, als ob er von ihrer Keuschheit angesteckt würde, was aber seiner eigenen Einstellung entgegenkommt.
Ob sein Unterricht wirklich gut für ihre Seele sei? wollte ihre Mutter, als sie noch lebte – die Stute, die ihr Fohlenfüllen führt –, einmal wissen, wobei sie unter ,Seele' naiv die unsterbliche ihrer Vorurteile verstand. – Bestimmt sei sein Unterricht um so besser für den Verstand! gab das schlagfertige Mädchen zurück. Er selbst hätte sich nicht besser verteidigen können. Wie dem auch sei, ihre Wissbegier und ihr Drang nach Wahrheit sind unwiderstehlich.
Jetzt, da der Prinz verrückt spielt, schließt sie sich noch stärker an ihn. Neulich kam sie ganz verstört zu ihm auf seine Kammer im Schloss, so außer sich, wie er sie noch nie gesehen hat. Sie trug eines von ihren schmucken, goldbetressten Kleidern, die bis auf den Boden reichen und das Entzücken ganz Helsingörs sind. Das leuchtend blonde Haar fiel ihr lose bis auf die Hüften, die heiteren Züge ihres Gesicht, auf dem er Spuren verwischter Tränen zu sehen glaubte, aber waren in bleicher Unordnung und Verwirrung, wie aufgelöst.
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