Herbert Lehnert
Thomas Mann
Die frühen Jahre
Eine Biographie
Inge zu eigen
Vorsatz
Heinrich Mann verlässt die Kaufmannswelt
Heinrich Mann missachtet den angehenden Schriftsteller-Bruder
Heinrich Mann »überwindet« den Naturalismus
Heinrich Manns Haltlos
Des Vaters Tod und Testament
Die Brüder kommen sich näher: Der Frühlingssturm!
Tarnende Sprache: Zweimaliger Abschied
Schopenhauer und Nietzsche
Richard Wagner
Sexualpsychologie
Die Briefe an Otto Grautoff I
Selbstbildung
Der Lehrer Brandes
Heinrich Manns Roman In einer Familie und Thomas Manns Gefallen
Studien
Maximilian Hardens Zeitschrift Die Zukunft
Brüderlicher Austausch: Heinrich Manns Das Wunderbare und Thomas Manns Der Wille zum Glück
Heinrich Manns konservative Neigungen
Die Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert
»Jüdischen Glaubens«
Weiter an der Geldquelle
Thomas Manns Beiträge zur Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert und deren Ende
Der Bajazzo
Der kleine Herr Friedemann
Der Tod
Wieder in Italien: Enttäuschung , Luischen , Tobias Mindernickel
Buddha und die Welteinheit
Die Briefe an Otto Grautoff II
Buddenbrooks : Die Konzeption des Familienverfalls
Heinrich Mann und die Konzeption
Anregungen und Einflüsse für Buddenbrooks
Der Glaube hilft nicht mehr gegen den Tod
Die Macht des Geldes
Tony Buddenbrook
Die Bürger-Rolle Thomas Buddenbrooks
Der Brüder -Streit und die Neurasthenie
Das Schulkapitel
Hanno Buddenbrook
Opposition gegen den Kapitalismus, aber kein historischer Roman
Buddenbrooks in Selbstinterpretationen
In inimicos
Wieder in München – 1898
Romantische Märchen und Geschichten
Der Kleiderschrank und Gerächt
Freundschaften
Der Weg zum Friedhof
Beziehungen: Heinrich Mann, Paul Ehrenberg, Richard Schaukal
Die Briefe an Otto Grautoff III
Tristan
Florenz, Mary Smith, Mitterbad
Die Hungernden
Die Adelaide-Episode für den Gesellschaftsroman Die Geliebten oder Maja
Ein Glück
Herman Bang
Tonio Kröger
Das Wunderkind
Bleibende Spannung zwischen den Brüdern
Heinrich Manns Die Jagd nach Liebe und der Briefwechsel darüber
Heinrich Manns Fulvia , Thomas Manns Gabriele Reuter : zwei Begriffe von Freiheit
Savonarola-Studien
Gladius Dei
Fiorenza
Beim Propheten
Die Freundschaft mit Otto Grautoff erkaltet nach Thomas Manns Heirat
1905: Schwere Stunde und Wälsungenblut
Ausblick auf spätere Werk-Perioden
Literatur
Siglenverzeichnis
Forschungsliteratur
Personenregister
Anmerkungen
Impressum
Mein zu früh verstorbener Freund Peter Pütz begann einen Vortrag über ethische Fragen in Texten Thomas Manns mit zwei Erinnerungen. Die erste handelte von seinem Deutsch-Lehrer in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Ihn hatten seine Schüler gebeten, Thomas Mann zu lesen, statt Literatur im Geiste eines christlichen Humanismus, wie der Lehrplan vorschrieb. Auf dieses Verlangen habe der Lehrer »mit leiser, bebender Stimme« geantwortet: »Ein Schriftsteller, der jeden, aber jeden Wert durch seine Ironie vernichtet, sollte verboten werden.« Die andere Erinnerung, die Peter Pütz vortrug, war die an die Äußerung eines Freundes, der ihm gesagt habe: »Ich habe in meinem Leben viel Thomas Mann gelesen und studiert und habe oft Vergnügen dabei gefunden – aber gegeben hat er mir nichts.«[1] Ich erinnere mich an Gespräche mit Peter Pütz, aber ich kann nicht stehen lassen, dass Thomas Mann mir nichts gegeben habe. Ich hatte wohl ausdrücken wollen, dass ich Thomas Manns Werke nicht lese, um meine Welt realistisch erklärt zu bekommen, um neue Lebenswerte zu entdecken, oder um einen Religionsersatz zu finden. Was Thomas Mann seinen Lesern im 21. Jahrhundert gibt, sind Wörter, die sich zu Beispielen, Szenen, Bildern ordnen, für eine Weise, wie man in einer Welt lebt, die nicht von einem Schöpfergott ein für alle Mal geordnet und mit starren Regeln des Verhaltens versehen wurde, sondern in einer modernen Welt mit Veränderungen und voller Widersprüche.
Modern ist eine Weltanschauung, die mit Widersprüchen leben kann. Sie verzichtet auf die traditionelle Metaphysik, die das Weltganze aus einem Prinzip zu begreifen suchte, sei es der Schöpfergott oder die auf mathematische Formeln reduzierte Naturwissenschaft. Der modern denkende Mensch hat den lenkenden Schöpfergott in einen Mythos verdrängt, der mit der Naturwissenschaft im Konflikt steht. Ein Konflikt zwischen dem Gefühl, zu einem großen Ganzen zu gehören und dem Wissen, dass eine mathematische Weltformel sich unserem Zugriff entzieht, charakterisiert das moderne Verhältnis zur Welt, auch das in den Werken Thomas Manns.
Seit Charles Darwins On the Origin of Species (1859) kann man es nicht mehr für die einzige Wahrheit halten, dass der Mensch, separat von der Tierwelt, nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde. Das Weltall, das die Astronomen beobachten und vermessen, besteht aus Galaxien, die auseinanderfliehen. Aus diesem Weltall lassen sich keine menschlichen Verhaltensregeln ableiten. Die biblische Morallehre hat ihre absolute Autorität verloren und wird durch pragmatisch gefundene Regeln erklärt oder ersetzt. »Modernismus« nenne ich das Bestreben unter Schriftstellern, den Prozess der Säkularisierung, der Modernisierung, anzunehmen. Thomas Manns Werk gehört zu dieser Bewegung, was nicht ausschließt, dass Erzähler und Figuren dieser Bewegung kritisch gegenüberstehen.
Unter den Ersatzreligionen, die sich Thomas Mann als neuen Weltsinn anboten, hat der Ästhetizismus die Schönheit für heilig erklärt und will Künstlern priesterliche Würde zuerkennen. Der moderne Realismus weigert sich, der Schönheit einen solchen Rang zu geben. Wie ein Kunstwerk versteht Thomas Mann Schopenhauers Philosophie, wenn sie den »Willen« als zeit- und raumloses Phänomen die Welt erfüllen lässt. Aller Metaphysik widersprach Nietzsche im zwölften Abschnitt der dritten Abhandlung Was bedeuten asketische Ideale in Zur Genealogie der Moral :
Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches »Erkennen«; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser »Begriff« dieser Sache, unsre »Objektivität«, sein. (KSA 5, 365)[2]
Diese Stelle kannte Thomas Mann schon in früher Jugend. Er las auch schon früh Nietzsches Aufsatz Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (KSA 1, 873–890), in dem er die Wörter der Sprache als bloße Metaphern erkennt, denen keine absolute Geltung zukommt. Sprachwerke bilden nicht die allen bekannte reale Welt ab, sondern Zusammenhänge aus einer oder mehreren Perspektiven, die widersprüchlich sein können.
In der Zeit, in der die Astronomie das Universum als auseinanderstrebende Galaxien erkannt hatte, und in der die Evolutionslehre den Menschen als Tiergattung in die Natur einordnete, im 19. und 20. Jahrhundert, griff die industrielle Revolution in die lange herrschende Ordnung von Gesellschaftsklassen ein. Zur Modernität gehört die Bereitschaft, die Veränderungen der Weltsicht einschließlich der Moralität in das Verständnis der Welt aufzunehmen, obwohl die alte Ordnung der Dinge noch immer die Orientierung des Menschen mitbestimmt, ohne absoluten Glauben zu verlangen. Die moderne Weltsicht der Zeit Thomas Manns, wie auch die der Gegenwart des 21. Jahrhunderts, ist durchsetzt von nostalgischen Rückverweisen auf die alte Ordnung. Ausdrücke wie »mein Gott« oder »Gott weiß« benutzen auch moderne Menschen. Sie implizieren nicht mehr die Existenz einer Gottes-Person, die menschliche Sprache spricht, sondern gebrauchen bloß Schatten der alten Bedeutung als Redensarten.
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