Geschick zuweilen den Besten verfolgt, noch daß eine
unglückliche leidenschaftliche oder ungesellige Gemütsart
bei manchem die vorzüglichsten, edelsten Eigenschaften
verdunkelt.
Nein! meine Bemerkung trifft Personen, die wahrlich
allen guten Willen und treue Rechtschaffenheit mit
mannigfaltigen, recht vorzüglichen Eigenschaften und
dem eifrigen Bestreben, in der Welt fortzukommen,
eigenes und fremdes Glück zu bauen, verbinden, und die
dennoch mit diesem allen verkannt, übersehn werden, zu
gar nichts gelangen. Woher kommt das? Was ist es, das
diesen fehlt und andre haben, die, bei dem Mangel
wahrer Vorzüge, alle Stufen menschlicher, irdischer
Glückseligkeit ersteigen? – Was die Franzosen den esprit
de conduite nennen, das fehlt jenen: die Kunst des Umgangs
mit Menschen – eine Kunst, die oft der schwache Kopf,
ohne darauf zu studieren, viel besser erlauert als der
verständige, weise, witzreiche; die Kunst, sich bemerkbar,
geltend, geachtet zu machen, ohne beneidet zu werden;
sich nach den Temperamenten, Einsichten und
Neigungen der Menschen zu richten, ohne falsch zu sein;
sich ungezwungen in den Ton jeder Gesellschaft
stimmen zu können, ohne weder Eigentümlichkeit des
Charakters zu verlieren, noch sich zu niedriger
Schmeichelei herabzulassen. Der, welchen nicht die
Natur schon mit dieser glücklichen Anlage hat geboren
werden lassen, erwerbe sich Studium der Menschen, eine
gewisse Geschmeidigkeit, Geselligkeit, Nachgiebigkeit,
Duldung, zu rechter Zeit Verleugnung, Gewalt über
heftige Leidenschaften, Wachsamkeit auf sich selber und
Heiterkeit des immer gleich gestimmten Gemüts; und er
wird sich jene Kunst zu eigen machen; doch hüte man
sich, dieselbe zu verwechseln mit der schändlichen,
niedrigen Gefälligkeit des verworfenen Sklaven, der sich
von jedem mißbrauchen läßt, sich jedem preisgibt; um
eine Mahlzeit zu gewinnen, dem Schurken huldigt, und
um eine Bedienung zu erhalten, zum Unrechte schweigt,
zum Betruge die Hände bietet und die Dummheit
vergöttert!
Indem ich aber von jenem esprit de conduite rede, der
uns leiten muß, bei unserm Umgange mit Menschen aller
Gattung, so will ich nicht etwa ein Komplimentierbuch
schreiben, sondern einige Resultate aus den Erfahrungen
ziehn, die ich gesammelt habe, während einer nicht
kurzen Reihe von Jahren, in welchen ich mich unter
Menschen aller Arten und Stände umhertreiben lassen
und oft in der Stille beobachtet habe. – Kein
vollständiges System, aber Bruchstücke, vielleicht nicht
zu verwerfende Materialien, Stoff zu weiterm
Nachdenken.
2.
In keinem Lande in Europa ist es vielleicht so schwer, im
Umgange mit Menschen aus allen Klassen, Gegenden
und Ständen allgemeinen Beifall einzuernten, in jedem
dieser Zirkel wie zu Hause zu sein, ohne Zwang, ohne
Falschheit, ohne sich verdächtig zu machen und ohne
selbst dabei zu leiden, auf den Fürsten wie auf den
Edelmann und Bürger, auf den Kaufmann wie auf den
Geistlichen nach Gefallen zu wirken, als in unserm
deutschen Vaterlande; denn nirgends vielleicht herrscht
zu gleicher Zeit eine so große Mannigfaltigkeit des
Konversationstons, der Erziehungsart, der Religions- und
andrer Meinungen, eine so große Verschiedenheit der
Gegenstände, welche die Aufmerksamkeit der einzelnen
Volksklassen in den einzelnen Provinzen beschäftigen.
Dies rührt her von der Mannigfaltigkeit des Interesses
der deutschen Staaten gegeneinander und gegen
auswärtige, von dem Unterschiede der Verbindungen mit
diesem oder jenem auswärtigen Volke und von dem sehr
merklichen Abstande der Klassen in Deutschland
voneinander, zwischen denen verjährtes Vorurteil,
Erziehung und zum Teil auch Staatsverfassung eine viel
bestimmtere Grenzlinie gezogen haben als in andern
Ländern. Wo hat mehr als in Deutschland die Idee von
sechzehn Ahnen des Adels wesentlichen moralischen und
politischen Einfluß auf Denkungsart und Bildung? Wo
greift weniger allgemein als bei uns die Kaufmannschaft
in die übrigen Klassen ein? (Soll ich die Reichsstädte
ausnehmen?) Wo macht mehr als hier das Korps der
Hofleute eine ganz eigene Gattung aus, in welche hinein,
so wie zu der Person der mehrsten Fürsten, nur Leute
von gewisser Geburt und gewissem Range sich
hinzudrängen können? Wo durchkreuzen sich mehr
Arten von Interesse? – Und das alles wird nicht durch
gewisse, dem ganzen Volke merkbare allgemeine
Nationalbedürfnisse, Volksangelegenheiten,
Vaterlandsnutzen konzentriert, wie in England, wo
Aufrechterhaltung der Konstitution, Freiheit und Glück
der Nation, Flor des Vaterlandes, der Punkt ist, in
welchem sich das Streben, Dichten und Trachten so
mancher originellen Charaktere vereinigt, noch wie in fast
allen übrigen europäischen Ländern, die entweder unter
einem einzigen Oberhaupte stehen oder durch ein
einziges, allen Gliedern wichtiges Interesse beherrscht
werden, wie die Schweiz, oder in welchen eine allein
herrschende Religion oder ein tyrannisches Klima, über
Denkungsart, Ton und Stimmung allgemein
überwiegende Gewalt hat.
Daß im ganzen unsre deutsche Verfassung, so
zusammengesetzt sie auch ist, sehr große, wesentliche
Vorzüge gewährt, das leidet keinen Zweifel; allein es ist
nicht weniger gewiß, daß dieselbe den mächtigsten
Einfluß auf die Verschiedenheit der Stimmung in den
einzelnen Provinzen und Staaten und unter den
mancherlei voneinander abgesonderten Ständen hat.
Eben daher kommt es, daß unsre Schauspieler,
Schauspieldichter und Romanschreiber ein viel
schwereres Studium haben, wenn sie alle diese Nuancen
kennen, bearbeiten und dennoch einen Anstrich von
originellem Nationalcharakter wollen durchschimmern
lassen; viel schwerer als in Frankreich, wo die Sitten der
verschiedenen Stände und einzelnen Provinzen nicht so
sehr gegeneinander abstechen. Eben daher kommt es,
daß man über wenige unsrer literarischen Produkte ein
allgemein einstimmig beifälliges Volksurteil hört, daß
überhaupt so wenig unsrer Werke als
Nationalmonumente auf die Nachwelt übergehn, und
eben daher endlich kommt es, daß es so schwer ist, mit
Menschen aus allen Ständen und Gegenden in
Deutschland umzugehn und bei allen gleichwohl gelitten
zu sein, auf alle gleich vorteilhaft zu wirken.
Der treuherzige, naive, zuweilen ein wenig bäuerische,
materielle Bayer ist äußerst verlegen, wenn er auf alle
verbindlichen, artigen Dinge antworten soll, die ihm der
feine Sachse in einem Atem entgegenschickt; dem
schwerfälligen Westfälinger ist alles hebräisch, was ihm
der Österreicher in seiner ihm gänzlich fremden Mundart
vorpoltert; die zuvorkommende Höflichkeit und
Geschmeidigkeit des durch französische Nachbarschaft
polierten Rheinländers würde man in manchen Städten
von Niedersachsen für Zudringlichkeit, für
Niederträchtigkeit halten! Man glaubt da, ein Mann, der
so äußerst untertänig und nachgiebig ist, müsse
gefährliche und niedrige Absichten haben oder müsse
falsch oder sehr arm und hilfsbedürftig sein, und oft ist
dort ein wenig zu weit getriebene äußere Höflichkeit
hinlänglich, den Mann, der sich am Rheine dadurch
allgemeine Liebe erwerben würde, an der Leine
verächtlich zu machen. Dagegen wird aber auch der nicht
kältere, nur weniger leichtsinnige, weniger
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