1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 um, unter mir ganz fremden Leuten, in despotischen
Staaten große Fortschritte zu machen; auch ist der
theoretische Unterricht in wahrer Weltklugheit bei der
Jugend teils selten mit Erfolge, teils nicht immer ohne
Gefahr zu erteilen; eigene Erfahrung muß da in der Folge
das Beste tun. Diese Lektionen, wenn man das Glück hat,
wohlfeil daran zu kommen, sind von der heilsamsten
Wirkung und prägen sich tief ein. Noch erinnere ich mich
einer kleinen Szene von der Art, die mich auf eine
Zeitlang vorsichtig machte: Ich saß in C*** in der
italienischen Oper, in der herrschaftlichen Loge; ich war
früher als der Hof gekommen, weil ich mittags nicht auf
dem Schlosse, sondern in der Stadt zu Gaste gespeist
hatte; noch waren wenig Menschen da; in der ganzen
Reihe des ersten Rangs saß nur der einzige
Landkommandeur, Graf J***, ein würdiger Greis. Er
hatte, wie es scheint, auch darauf gerechnet, daß es schon
später wäre, als es wirklich war; weil er nun Langeweile
hatte und mich gleichfalls einsam da sitzen sah, so trat er
zu mir herein und fing eine Unterredung mit mir an. Er
schien sehr zufrieden mit dem, was ich ihm über
verschiedene Gegenstände, von denen ich einige
Kenntnis besaß, sagte; der Greis wurde immer
freundlicher und herablassender, und dies kitzelte mich
so sehr, daß ich darauf allerlei Seitensprünge in meinem
Gespräche machte und zuletzt ein wenig medisant wurde.
Endlich entwischte mir eine mir gegenwärtig nicht mehr
erinnerliche grobe Unvorsichtigkeit im Reden; der Graf
sah mir ernsthaft in das Gesicht, und ohne weiter ein
Wort zu verlieren, ließ er mich stehn und ging zurück in
seine Loge. Ich fühlte die ganze Stärke dieses Verweises,
aber die Arzenei half nicht lange. Meine Lebhaftigkeit
verleitete mich zu großen Inkonsequenzen; ich übereilte
alles, tat immer zu viel oder zu wenig, kam stets zu früh
oder zu spät, weil ich immer entweder eine Torheit
beging oder eine andere gutzumachen hatte. Daher
kamen unendliche Widersprüche in meinen Handlungen,
und ich verfehlte fast bei allen Gelegenheiten des
Zwecks, weil ich keinen einfachen Plan verfolgte. Zuerst
war ich zu sorglos, zu offen, gab mich zu unvorsichtig
hin und schadete mir dadurch; alsdann nahm ich mir vor,
ein feiner Hofmann zu werden; mein Betragen wurde
gekünstelt, und nun trauten mir die Bessern nicht; ich
war zu geschmeidig und verlor dadurch äußere Achtung
und innere Würde, Selbständigkeit und Ansehn. Erbittert
gegen mich und andre riß ich mich dann los und wurde
bizarr. Dies erregte Aufsehn; die Menschen suchten mich
auf, wie sie alles Sonderbare aufsuchen. Dadurch aber
erwachte mein Trieb zur Geselligkeit wieder; ich näherte
mich aufs neue, lenkte wieder ein, und nun verschwand
der Nimbus, den nur meine Abgezogenheit von der Welt
um mich her gezogen hatte. In einer andern Periode
spottete ich der Torheiten, zuweilen nicht ohne Witz;
man fürchtete mich, aber man liebte mich nicht; dies
schmerzte mich; um das wieder gutzumachen, zeigte ich
mich von der unschädlichen Seite, entfaltete mein
liebevolles, wohlwollendes Herz, unfähig zu schaden und
zu verfolgen – und die Wirkung davon war, daß
jedermann, der noch einen Rest von Groll auf mich oder
irgendeinen lustigen Einfall von mir auf seine Rechnung
geschrieben hatte, mir jetzt auf der Nase spielte, sobald er
sah, daß ich nur mit Rapieren und nicht mit Schwertern
focht, daß meine Waffen nicht zum Morde geschliffen
waren. Oder wenn meine satirische Laune durch den
Beifall lustiger Gesellschafter aufgeweckt wurde, hechelte
ich große und kleine Toren durch; die Spaßvogel lachten
dann; aber die Weisern schüttelten die Köpfe und
wurden kalt gegen mich. Um zu zeigen, wie wenig
bösartig meine Laune wäre, hörte ich auf zu medisieren
und entschuldigte alle Fehler, und nun hielten einige
mich für einen Pinsel, andre für einen Heuchler. Wählte
ich mir meinen Umgang unter den ausgesuchtesten,
aufgeklärtesten Männern, so erwartete ich vergebens
Schutz von dem am Ruder stehenden Dummkopf; gab
ich mich elenden Leuten preis, so wurde ich mit diesen in
eine Klasse gesetzt. Menschen ohne Erziehung, von
niederm Stande mißbrauchten mich, wenn ich mich
ihnen zu sehr näherte; mit Vornehmern verdarb ich es,
sobald sie meine Eitelkeit beleidigten. Bald ließ ich zu viel
Übergewicht den Dummen fühlen und wurde verfolgt;
bald war ich zu bescheiden und wurde übersehn. Bald
richtete ich mich nach den Sitten der Leute, nach dem
Ton aller unbedeutenden Gesellschaften, in welche ich
lief, verlor goldene Zeit, Achtung der Weisen und
Zufriedenheit mit mir selber; dann wurde ich zu einfach
und spielte eine schiefe Rolle, da, wo ich hätte glänzen
können und sollen, durch Mangel an Zuversicht zu mir
selber. Zu einer Zeit ging ich zu selten aus; man hielt
mich für stolz oder menschenscheu; zu einer andern
zeigte ich mich überall und wurde ein Alltagsgesicht. In
den ersten Jünglingsjahren gab ich mich unbedachtsam
jedem ausschließlich, einzeln und ganz hin, der sich
meinen Freund nannte und mir einige Zuneigung bewies,
wurde oft schändlich betrogen und in den süßesten
Erwartungen getäuscht; nachher war ich jedermanns
Freund, bereit jedem zu dienen, und dann schloß sich
niemand mit ganzer Seele an mich, weil niemand mit dem
kleinen, in so viel Partikeln geteilten Stückchen Herzen
vorliebnehmen wollte. Wenn ich zu viel erwartete, wurde
ich getäuscht; wenn ich ohne allen Glauben an Freue und
Redlichkeit unter den Menschen umherrannte, hatte ich
gar keinen Genuß, nahm an gar nichts teil. Nie aber
verbarg ich meine schwachen Seiten so sorgfältig, als ich
hätte tun sollen. – Und so vergingen dann die Jahre, in
welchen ich hätte mein Glück machen können, wie man
das gewöhnlich nennt. Jetzt, da ich die Menschen besser
kenne, da Erfahrung mir die Augen geöffnet, mich
vorsichtig gemacht und vielleicht die Kunst gelehrt hat,
auf andre zu wirken, jetzt ist es zu spät für mich, diese
Wissenschaft in Anwendung zu bringen. Mein Rücken
krümmt sich mit Mühe zu Reverenzen; ich habe nicht
viel unnütze Zeit mehr zu verschwenden, die ich
preisgeben könnte; das Wenige, was ich noch in dem
Reste meines Lebens auf solchen Wegen erlangen
konnte, lohnt die Mühe und Anstrengung nicht, die mich
das kosten würde, und es ziemt dem Mann, dessen
Grundsätze Alter und Erfahrung befestigt haben,
ebensowenig, jetzt erst anzufangen, den Geschmeidigen
wie den Stutzer zu spielen. – Es ist zu spät, sage ich, mit
der Ausübung anzuheben, aber nicht zu spät, Jünglingen
zu zeigen, welchen Weg sie wandeln müssen – und so
lasset uns denn den Versuch machen und der Sache
näherrücken!
Erstes Kapitel
Allgemeine Bemerkungen und Vorschriften über den
Umgang mit Menschen
1.
Jeder Mensch gilt in dieser Welt nur so viel, als wozu er
sich selbst macht. Das ist ein goldener Spruch, ein reiches
Thema zu einem Folianten über den esprit de conduite
und über die Mittel, in der Welt seinen Zweck zu
erlangen; ein Satz, dessen Wahrheit auf die Erfahrung
aller Zeitalter gestützt ist. Diese Erfahrung lehrt den
Abenteurer und Großsprecher, sich bei dem Haufen für
einen Mann von Wichtigkeit auszugeben, von seinen
Verbindungen mit Fürsten und Staatsmännern, mit
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