Einschenken !
Rudi schenkte ein.
Sag Prost!
Rudi sagte Prost.
Evi löschte ihren Durst mit zwei kräftigen Schlucken. Sie drückte die Zigarette aus und dachte, dass der Aschenbecher dringend geleert werden müsste.
Sofort nahm er ihn und ließ Kippen und Asche in den Mülleimer rieseln.
Und jetzt erzählst du mir etwas über Lottchen und deren Beziehung zu Poff!
Ohne zu zögern begann er. »Ich kenne Poff erst, seitdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war. Er war mit Lottchen zusammen, mehr weiß ich nicht.«
Sag mir, was du von Lottchen willst!
Rudi gähnte. Mit den Fingerspitzen massierte er abwechselnd Augen und Schläfen.
»Ich will Lottchen…«
Genau in dem Augenblick meldete sich Evis Handy zum dritten Mal.
Sie fasste in ihre Handtasche und wühlte darin herum, doch sie fand es erst nach wenigstens einer halben Minute Sprechgesang einer amerikanischen Feministin. Sie stöhnte auf vor Ärger, als sie schon wieder Doris ruft an las und drückte eilig weg, doch es hatte schon zu lange gedauert. Rudis Lider klappten gerade zu, und sein Kopf fiel vornüber.
»Nicht!«, rief sie und sprang hoch. So gut es ihre Hände zuließen, packte sie ihn bei den Schultern und rüttelte daran. »Rudi! Nicht einschlafen! Wir sind noch nicht fertig!«
Doch Rudi hatte keine Lust mehr.
*
23.30 Uhr, zurück nach Mänzelhausen
»Da ist sie«, rief Doris und wies mit dem Finger auf die Frau am Straßenrand.
»Gott sei Dank ist ihr nichts passiert.« Sie hielt, und Evi stieg ein.
»Das hat ja ewig gedauert«, schimpfte sie. »Fahren Sie los! Ich habe seit zehn Minuten nicht geraucht. Mir ist, als halluziniere ich bereits.«
Doris tat wie geheißen und gab Gas. »Was war da los?«, fragte sie.
»Wieso bist du mit dem Kerl abgehauen?«, wollte Herbert wissen, und Reinhold setzte nach: »Wieso sind Sie nicht ganz normal durch die Vordertür hinausgegangen? Dann hätten wir Sie sehen und Ihnen folgen können, aber so haben Sie uns in Angst und Schrecken versetzt.«
»Das wäre ja nicht aufregend genug gewesen«, stichelte Margot. »Frau Bandeisen wollte ein wenig für Spannung sorgen, damit ihr Einsatz uns noch lange im Gedächtnis bleibt.«
Nichts an ihren Worten erinnerte mehr an die Sorgen, die sie sich vor weniger als einer halben Stunde noch um die Schneiderin gemacht hatte.
»Was reden Sie denn für einen Unsinn?«, entrüstete sich Evi, »und wieso hacken Sie jetzt alle auf mir herum? Ich habe über eine Stunde mit diesem Holzkopf zugebracht und musste ihm jedes verdammte Wort einzeln aus der Nase ziehen.«
»Der Wirt hat aber was ganz anderes gesagt«, widersprach Herbert. »Er soll geredet haben wie ein Wasserfall.«
»Das hat er, aber Sie sollten vielleicht mal fragen, was er geredet hat, das war nämlich alles nur Müll, weil meine geistigsuggestiven Kompetenzen leider unter einer Funktionsstörung litten.«
»Red nicht so geschwollen«, beschwerte sich Herbert. »Du hast es vermasselt, sonst gar nichts.«
»Dann haben Sie überhaupt nichts erfahren?«, fragte Doris besorgt.
»Nichts, was wir nicht schon wussten.« Evi fasste plötzlich an ihren Hals und begann zu hecheln. »Ich brauche eine Zigarette, sonst kann ich für nichts garantieren. Fahren Sie schneller, Doris. Mir wird schlecht.«
Kaum dass sie auf schneeglatten Straßen mehr ins Dorf hineingerutscht, als gefahren waren und Doris den Wagen vor Evis Haus zum Stehen gebracht hatte, sprang die Schneiderin hinaus. Zwei Minuten später saß sie wieder im Auto, zwischen ihren Lippen eine glühende Zigarette. Als sie nach zwei Zügen den Stummel aus dem Fenster schnippte, hauchte sie: »Das war knapp!«
Ihre Freunde ließen erlöst die Schultern sacken, denn sie hatten schon einmal miterlebt, wie Evi aufgrund von Nikotinmangel das Bewusstsein verloren hatte.
»Ich schlage vor, dass wir zur Villa fahren, wo Sie uns alles ganz genau schildern werden, einverstanden?«
»Was bleibt mir übrig, Frau Vorsitzende? Sie lassen ja doch nicht locker.«
Es war weit nach Mitternacht, als sie vor der Villa hielten.
»Reinhold, Sie können bei mir übernachten, wenn Sie wollen. Oder ruft das Geschäft morgen früh?«
»Das Geschäft ruft immer, liebe Freundin. Mein Angestellter wird sich bitter über mich beklagen, wenn ich ihm schon wieder die ganze Arbeit aufbürde. Ich werde einen Extrabonus zahlen müssen. Dabei hatte ich ihm schon eine beachtliche Weihnachtsgratifikation überwiesen. Was mich diese Angelegenheit noch kosten wird…«
»Ich dachte, du bist Großunternehmer, aber jetzt redest du wie ein Krämer«, rüffelte Herbert und marschierte an ihm vorbei ins Haus.
Reinhold räusperte sich und folgte ihm. Evi und Margot warteten schon im Wohnzimmer.
Doris war in die Küche gegangen. Sie nahm zwei Flaschen Champagner aus dem Kühlschrank, füllte den Kühler mit Eis und ließ etwas Wasser hinzulaufen. Ein Blick in die Speisekammer erinnerte sie daran, dass sie schon wieder vergessen hatte, einzukaufen. Aber im Brotkörbchen lagen noch Milchbrötchen und zwei Laugenbrezel. Sie stellte alles auf den Servierwagen und rollte ihn ins Wohnzimmer.
Herbert hatte der Schneiderin ein Glas Likör gereicht, das diese dankbar entgegennahm. »Sie sind ein Schatz«, sagte sie und kippte den kupferfarbenen Sirup mit einem Schluck hinunter.
Margot schaute pikiert, und Herbert wurde rot, aber Evi wedelte schon wieder mit der Zigarettenschachtel.
»Dass Sie sich nicht auf Lorbeeren ausruhen, Klöbelschuh. Nehmen Sie eine raus und dann Feuer, bitte.«
Nach einem Zug war nur noch ein Stummel übrig, den sie im Aschenbecher ausdrückte. Herbert hatte der Schachtel schon die nächste Zigarette entnommen und schob sie zwischen ihre Lippen. Wieder flammte das Feuerzeug auf, und Evi inhalierte so gierig, dass sich die obere Reihe ihrer Zahnprothese abzeichnete.
Margot schüttelte ihren Kopf und murmelte: »Wie ist es nur möglich, dass so etwas die Möglichkeit ist, also, so etwas Unmögliches hält man kaum für möglich.«
»Evi, bitte!«, sagte Doris. »Wir platzen gleich vor Ungeduld.«
Die Schneiderin klopfte, begleitet von einem kleinen Hüsteln, zweimal auf ihre flache Brust, dann endlich begann sie.
»Als ich eintrat, befand sich außer dem Wirt nur noch ein Mann im Schankraum. Er war lang und dürr, und ungepflegt ist gar kein Ausdruck. Sein fettiges Haar reichte wie beim Wirt bis auf die Schultern. Seine Kleidung erinnerte mich an die von Poff, und ich fragte mich, ob die Modepolizei hier überhaupt noch etwas ausrichten könnte. Dennoch hoffte ich, dass es sich um meine Verabredung handelte.
Ich setzte mich an einen der hinteren Tische, damit uns der Wirt, sollte es zu einem Gespräch kommen, nicht belauschen konnte. Es dauerte eine Weile, bis der Typ endlich von seinem Hocker rutschte und sich zu meinem Tisch bequemte.
Wie Lottchen sehen Sie nicht gerade aus, sagte er. Ich antwortete nicht, sondern bedeutete ihm, sich zu setzen. Das tat er. Wie heißen Sie, fragte ich, und er antwortete Rudi Böhm. Ob er Lottchen kenne, wollte ich wissen. Er antwortete nicht gleich, sondern schien zu überlegen, ob es nicht klüger sei, den Mund zu halten, aber offenbar war die Neugier größer als die Vorsicht, und so nickte er.
Der Wirt mit dem Namen Rolex-Jonny kam an den Tisch und fragte, was ich trinken wolle. Ich bestellte und zündete mir eine Zigarette an, worauf er mich anschnauzte, dass Rauchen hier nicht gestattet sei. Schweigend schob ich einen fünfzig-Euro-Schein über die Tischplatte. Er grapschte danach und brachte den Aschenbecher.
Rudi starrte mich an und schien auf eine Erklärung zu warten. Doris‘ Idee, sich als Lottchens Sekretärin auszugeben, kam mir jetzt noch absurder vor. Ich musste mir also etwas einfallen lassen, Rudi von der Frage nach meiner Identität abzubringen. Doch je mehr ich mich anstrengte, meine Konzentration auf die höchstmögliche Stufe zu treiben und ihn dabei zu fokussieren ,umso deutlicher spürte ich seinen Widerstand.«
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