Mathias Wais
Ich bin, was ich werden könnte
Entwicklungschancen des Lebenslaufs
Anregungen für die Biographiearbeit
1. Auflage 2001 im Verlag Joh. M. Mayer, Stuttgart
5. Auflage 2020 im Info3 Verlag, Frankfurt am Main
ISBN E-Book 978-3-95779-137-5
ISBN gedruckte Version 978-3-95779-128-3
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH
Cover
: Houman Schroeder, Frankfurt am Main unter Verwendung eines Motivs von Jean Cocteau
Individualität will gelebt sein. Sie entfaltet sich in der Zeit, in der Begegnung mit anderen Menschen und sie kann immer wieder neue Lebenswirklichkeiten schaffen.
Der Autor knüpft an alltägliche Begebenheiten an und zeigt, wie anhand von Gespräch und Übung mit Ruhe und Sicherheit, dem Neuen und Anderen Raum geschaffen werden kann. Kleine Fallbeispiele lassen erkennen, wie auch in Krisenzeiten in der Enttäuschung über Unerreichtes ein Zukunftskeim zu bemerken ist, der wachsen, blühen, gedeihen will und kann. Ein Buch, gesättigt mit Lebenserfahrung, das ganz ohne theoretischen Überbau konkrete Anleitungen für die eigene Arbeit an der Biographie und Lebenswirklichkeit bietet.
Mathias Wais, geboren 1948, studierte Psycholgie, Judaistik und Tibetologie in München, Tübingen und Haifa und schloss als Diplom-Psychologe ab; eine psychoanalytische Ausbildung und Forschungen schlossen sich an. Zunächst Spezialisierung auf Neuropsychologie und Therapie von Hirnverletzten. Seit 1985 Arbeitsschwerpunkt Biographik, Biographie- und Erziehungsberatung und Leitung des Dortmunder Zentrums »Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Erwachsene«; Autor von zahlreichen Sachbüchern.
„Das Wesen der Individualität ist auf Zukunft angelegt.“
Mathias Wais
Über den Umgang mit dem Labyrinth – ein Vorwort
Teil I
1 Das Zukunftselement in heutigen Schicksalen und die biographische Krise
2 Das individuelle Urbild
Teil II
3 Entwicklungsgesetze und ihre Bedeutung
Die Mondknoten
Das zwölfte Lebensjahr und der Zwölfer-Rhythmus
Der Fünfer- und der Zehner-Rhythmus
Zur Bedeutung der Zahlenverhältnisse
4 Die Lebensmitte und ihre Krise
5 Die Bedeutung der Jahrsiebte
6 Die vierfache Ich-Frage – Zur biographischen Bedeutung der Pubertät
7 Der Doppelgänger I
Seine Entstehung
8 Der Doppelgänger II
Seine Sprache
9 Der Doppelgänger III
Zwischen Heimat und Heimatlosigkeit
10 Geistige Wesen in der Biographie I
Das Helle und das Dunkle
11 Geistige Wesen in der Biographie II
Chronos und Kairos
12 Versuch über das Böse in der Biographie
13 Das Stauungsphänomen
14 Das Polaritätsphänomen
15 Das Verdopplungsphänomen
16 Über das schrittweise Eintreten von Ereignissen
17 Sprache des Anfangs I
Zur Signatur der Geburtssituation
18 Sprache des Anfangs II
Die Bedeutung der landschaftlichen Herkunft
19 Sprache des Anfangs III
Der erste Moment einer Begegnung
20 Verbindung und Trennung
21 Biographie heute – Der Einzelne und die Gemeinschaft
Teil III
22 Über Zufall und Sinn
23 Wege zum Sinnverständnis moderner Lebensläufe
24 Das Beratungsgespräch als Biographiehilfe
25 Der Weg der Übung
26 Vorbereitung auf die Biographiearbeit
27 Über den Umgang mit biographischer Erkenntnis
28 Zur Frage der Berechtigung der Biographiearbeit
Anmerkungen
Herangezogene Literatur
Uwe Meinardus Biographiearbeit und Psychotherapie – schwierige Verwandte oder freundliche Nachbarn?
Über den Übergang mit dem Labyrinth – ein Vorwort
Eigentlich geht man durch das Leben wie durch ein Labyrinth – irgendwie kommt man schließlich durch, hinterher aber wüsste man kaum zu sagen wie. Viele Werke der Mythologie und Kunst scheinen mir diesen Sachverhalt anzusprechen. Es gibt Kunstwerke, die das Thema des Labyrinths zu einem Bild, zu einem Moment verdichten. So habe ich in dieser Hinsicht zum Beispiel Wesentliches in dem Film Orlando (nach dem Roman von Virginia Woolf) von Sally Potter erfasst.
Biographiearbeit und Biographieberatung, wie sie in den letzten Jahren aufgekommen sind, stellen leider keine Hilfe dar, besser durch das Labyrinth zu kommen. Und was hieße auch besser?Würde man mit einem Konstruktionsplan in der Hand durch das Labyrinth gehen, so gäbe es die Befreiung, die Überraschung nicht, doch wieder ein Stück weitergekommen zu sein. Diese Überraschung ist es aber, die Hoffnung gibt.
Wir wissen eigentlich kaum etwas über das Labyrinth, durch das wir – manchmal amüsiert, manchmal verzweifelt, manchmal tatkräftig, manchmal mutlos – hindurchzukommen versuchen. Das einzige, was wir wissen, ist, dass es immer weitergeht. Mit Weitergehen meine ich das Herauskommen aus Katastrophen, aus dem Scheitern, auch aus dem Glück, das – wie es Sigmund Freud formulierte – ein episodisches Phänomen ist. Die Frage ist also: Woher wissen wir, dass es immer weitergeht? Oder was liegt vor, wenn wir dieses Wissen – etwa in einer uns ausweglos erscheinenden Situation, einer zermürbenden Ehekrise oder einer inneren Einsamkeit – verlieren?
Wer konstruiert eigentlich dieses Labyrinth? Eine einfache Antwort wäre: der liebe Gott. – Aus der jahrelangen Beratungspraxis und der beratenden Begleitung von Menschen in Lebenskrisen habe ich jedoch den Eindruck gewonnen, dass der Sachverhalt in einer skandalösen Weise komplizierter ist: Wir sind es selbst, die das Labyrinth ständig, im Vollzug sozusagen, konstruieren. Unser Ich ist es. Da muss es, von unserem Alltags-Ich unbemerkt, eine Instanz in uns geben, die, unsere Vergangenheit und Zukunftsmöglichkeiten überschauend, unser Schicksal schafft. Deshalb also, weil wir es selbst schaffen, wissen wir, dass es in unserem Labyrinth immer weitergeht.
Wieso tut jenes Ich – nennen wir es, weil es ja nicht das alltägliche Ich ist, das »Höhere Ich« – das? Offenbar verfolgt es Ziele und Aufgaben und führt uns in Begegnungen, durch Schicksale, auch durch die Banalitäten des Alltags. Der erste Teil des Buches handelt von diesem Höheren Ich.
Biographiearbeit und Biographieberatung gehen ja nicht von der Frage aus: Wie hätten Sie’s denn gern? Sie können keine Tips geben, wie man etwa schneller oder mit weniger Aufwand durch das Labyrinth käme. Die Aufgabe der Biographieberatung ist eine andere. Sie kann, anhand konkreter und alltäglicher Lebensfragen und Lebenskrisen, uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass wir es selbst sind, die laufend das Labyrinth konstruieren. Sie kann damit etwas an der Haltung ändern, mit der wir durch das Labyrinth gehen; nichts dagegen an der Tatsache, dass wir durch ein Labyrinth gehen. So versucht der zweite Teil, anhand einiger biographischer Phänomene zu zeigen, nach welchen Gesichtspunkten wir unser Labyrinth konstruieren. Wenn es gelingt, so taucht im Beratungsgespräch eine Idee, eine handlungsrelevante Perspektive davon auf, dass die Konstruktion des Labyrinths sinnvoll ist, weil sie unsere ist, uns eigen ist.
Der dritte Teil handelt davon, wie man als Beraterin oder Berater zu einem Verständnis des individuellen Labyrinths kommt und wie man das dem nach Rat Suchenden vermittelt. Für beide, für ihn wie für den Berater, handelt es sich – um dies vorwegzunehmen – nicht um intellektuelle Akrobatik oder psychologisch analysierende Akribie, sondern um einen Übungsweg. Der Beratende, der einen individuellen Lebensgang verstehen will, geht einen inneren Übungsweg, und der Betroffene, der ein Verständnis seines Labyrinths und Gesichtspunkte dafür sucht, wie er sich aktiv handelnd, statt passiv erleidend weiterbewegen kann, muss ebenfalls einen Übungsweg gehen.
Читать дальше