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»Los, steig ein!« Der aggressive Ton verhieß nichts Gutes. Eine Autotür knallte zu, dann eine zweite, und schon schleuderte der Wagen um die Ecke.
Wenn irgendein Mensch an diesem Ort unterwegs gewesen wäre, hätte er vielleicht die wütenden Schreie gehört, die aus dem Wageninneren nach draußen drangen, doch die Straßen waren wie ausgestorben, keine Menschenseele konnte etwas gesehen oder gehört haben. Es gab keine Zeugen für das, was geschehen war, nur einer wusste es, doch der war zurückgeblieben, enttäuscht, voller Wut und machtlos. Aber es gab Hoffnung, denn das Letztere schien nur so. Das Recht war auf seiner Seite – und die Rache umso süßer.
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22.40 Uhr, im »Handtuch«
Als Evi nach über einer Stunde nicht zurückgekehrt war, stiegen sie aus und überquerten die Straße. Es war totenstill.
»Das musste ja schiefgehen«, unkte Margot.
»Mach nicht die Pferde scheu«, wies Herbert seine Frau zurecht. »Noch ist nichts schiefgegangen.«
Vorm Eingang blieben sie stehen und sahen einander an.
»Sind Sie dann soweit?«, fragte Doris.
Alle nickten. Sie zog die Tür auf und ging als Erste hinein, gefolgt von Margot, die nach der Hand ihres Mannes griff und sie fest umschlossen hielt. Reinhold als Letzter schloss die Tür.
Der Name »Zum schmalen Handtuch« hätte passender nicht sein können.
Die vom Fußboden bis zur Decke abgewetzte und ungepflegte Schänke war wenigstens zehn Meter lang, doch höchstens vier Meter breit. An den beiden Längsseiten standen je fünf Tische. Sie waren mit einer Seite bis an die Wand geschoben, so dass an jeden nur drei Stühle passten. Durch die beiden Reihen hindurch führte ein kaum fünfzig Zentimeter breiter Gang, der vor einer altmodischen, schillernd bunt beleuchteten Musikbox endete.
Reinhold schien beim Anblick dieser Rarität seinen Augen nicht zu trauen. »Mann, das ist ja eine original Wurlitzer Musik-Box. Die hat gut und gerne fünfzig Jahre auf dem Buckel.«
Seine Begleiter sahen ihn erstaunt an. »Was schauen Sie denn so?«, fragte er pikiert. »Ich war nicht immer Bestatter.«
Ein Geräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Tresen. Sie erschraken, als dahinter plötzlich ein Mann zum Vorschein kam. Über seine Schanksäule aus weißblaugeäderter Keramik und einem künstlichen Miniweihnachtsbaum hinweg funkelte er sie misstrauisch an. Sein Alter schätzte Doris auf fünfundvierzig, doch das ungewaschene, schulterlange Haar und der Stoppelbart machten einen so ungepflegten Eindruck, dass er womöglich älter aussah, als er in Wirklichkeit war.
»Guten Abend«, begrüßte sie den Mann. »Sind Sie der Wirt?«
»Und wenn?«, war die patzige Antwort.
»Dann können Sie uns sicher sagen, wo wir unsere Bekannte finden.«
»Bekannte? Keine Ahnung. Ich hab schon geschlossen. Kommt morgen wieder.«
Doris hatte beim Eintreten den typischen Geruch vom Qualm schwarzen Tabaks bemerkt. Gott sei Dank, dachte sie und musste lächeln, als sie den bis zum Rand mit gelben Stummeln gefüllten Aschenbecher sah. Der Wirt war ihrem Blick gefolgt und entfernte ihn wortlos. Als Nächstes schnappte er sich einen Lappen und wischte damit den Tresen sauber.
»Das werden wir«, versprach Doris in extra scharfem Ton. »Aber nicht alleine, sondern in Begleitung eines gewissen Hauptkommissars Beckergsell von der hiesigen Kriminalpolizei, es sei denn, Sie sagen uns augenblicklich, wo sich die Dame befindet, die vor einer Stunde Ihre Gaststätte betreten hat. Sie ist schon etwas älter und trägt einen Hut.«
»Was seid ihr denn für Vögel?«, fragte der Wirt und verzog sein Gesicht.
»Sehen wir aus, als könnten wir fliegen?«, blaffte Herbert zurück. »Also. Wo ist sie?«
Als keine Antwort kam, schritt Herbert hinter den Tresen und packte den Kerl mit beiden Händen beim Kragen. »Ich frag nur noch einmal: Wo ist die Schneiderin?«
Herberts rohe Behandlung machte Eindruck.
»Sie ist mit einem Typ durch den Hinterausgang raus.«
»Mit welchem Typ?«
»Ich hab ihn vorher noch nie hier gesehen.«
Herbert zog ihn so dicht an sich heran, dass sich fast ihre Nasenspitzen berührten. »Du lügst«, knurrte er. »Er hat sie hierher bestellt. Warum sollte er das tun, wenn er die Kneipe nicht kennt? Es gibt hunderte in Perlstetten.«
Der Wirt versuchte, sich aus Herberts Griff zu befreien, aber der ließ nicht locker. »Ich zähl bis drei. Dann sagst du uns seinen Namen und wo er mit der Frau hingegangen ist.«
Herbert schien es Ernst zu sein. Mit jedem Wort wuchs sein Zorn, der sich im Sekundentakt auf den bockigen Kneipenwirt entlud. Schließlich war dessen Widerstand gebrochen.
»Er heißt Rudi und ist hier Stammgast.«
»Rudi…, und weiter?«
»Böhm.«
»Was ist das für einer?«
»Einer wie alle hier. Trinkt viel, redet Mist und bezahlt nur selten.«
»Wie sieht er aus und wie alt ist er?«
»Hässlich wie die Nacht ist der, und sein Alter…? Keine Ahnung. Vielleicht um die vierzig.«
»Seit wann sind sie weg?«
»Seit einer halben Stunde vielleicht.«
»Und was haben sie gemacht?«
»Was sollen sie denn gemacht haben? Rumgesessen haben sie, und die Alte hat mich so lange genervt, bis ich ihr einen Aschenbecher hingestellt habe. Es ist verboten, in Gaststätten zu rauchen, das hab ich ihr gesagt, aber sie hat nicht lockergelassen. Dann hat sie angefangen zu qualmen, und zwar derart stinkenden Tabak, dass ein Gast nach dem anderen abgehauen ist.«
»Du lügst schon wieder«, sagte Herbert. »Es waren außer den beiden keine Gäste hier. Wir haben deinen Schuppen die ganze Zeit beobachtet. Nicht einer ist reingegangen oder rausgekommen.«
»Über was haben sie denn geredet?«, fragte Doris betont versöhnlich, denn es kam jetzt darauf an, vom Wirt auf schnellstem Wege brauchbare Informationen zu erhalten.
»Rudi hat geredet, sie fast gar nicht. Normalerweise quatscht er nicht so viel, aber heute Abend wollte seine Klappe überhaupt nicht mehr stillstehen.«
»Und was redete er?«
»Woher soll ich das wissen? Glaubt ihr, ich belausche meine Gäste?«
»Von Ihnen glaube ich noch ganz andere Dinge, da zählt Lauschen noch zu den harmlosen«, meinte Reinhold trocken.
»Wieso stellt ihr mir all diese idiotischen Fragen? Ich hab nichts getan«, quengelte der Wirt wie ein auf frischer Tat ertappter Langfinger.
»Erzählen Sie uns ganz einfach, was hier zwischen 22 und 23 Uhr passiert ist, dann können wir auf die Fragerei verzichten«, schlug Reinhold vor.
Herbert lockerte seinen Griff und bellte: »Los! Raus mit der Sprache!«
Der Wirt hob die Hände zum Zeichen seiner Kapitulation.
»Rudi kam so gegen halb zehn und bestellte Bier. Dann erzählte er, dass er eine Verabredung hätte. Ich fragte mit wem und er sagte, mit Lottchen.«
»Moment«, unterbrach Reinhold. »Nur um eine Verwechslung zu vermeiden: Sie sprechen von Lottchen Kääsig, der brünetten Schönheit vom Lande, richtig?«
»Kääsig? Wenn sie so heißt, dann tut sie mir leid. Sie nannte sich Lottchen, Nachnamen sind hier Nebensache.«
»Sie verkehrte also hier in Ihrem Lokal?«
»Ja. Leider viel zu kurz. Sie war der beste Gast, den ich jemals hatte.«
»Weiter!«, befahl Herbert.
»Ich sagte, dass sie aber schon lange nicht mehr hier gewesen wäre, und da schnauzte er mich an, dass das ja wohl kein Wunder wäre bei dem Loch hier. Und warum kommt sie dann überhaupt, wollte ich wissen, weil mir sein arrogantes Gelaber ziemlich auf die Nerven ging. Weil ich es so will, war seine Antwort. Lottchen lässt sich doch von dir nichts befehlen, hab ich ihn ausgelacht. So selbstbewusst wie die drauf ist.
Als um zehn seine Verabredung dann auftauchte, hatte Rudi seinen Augen nicht getraut. Er hatte ja Lottchen erwartet. Aber die hier war ja mindestens achtzig, und der komische Hut machte sie auch nicht gerade jünger. Aber er ist trotzdem zu ihr an den Tisch gegangen, wahrscheinlich aus Neugier. Ich hab nicht hören können, wie die Alte sich vorgestellt hat, aber Rudi setzte sich tatsächlich zu ihr. Und dann passierte etwas ganz Seltsames. Die Frau bekam auf einmal so einen komischen Gesichtsausdruck. Sie starrte Rudi an, und sofort fing er an zu erzählen. Wie ich schon sagte, so viel quatscht er normalerweise nicht. Die Frau saß nur da und hörte zu. Das ging die ganze Zeit so.«
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