Auf der Rückfahrt nach Kairo genoss Mona endlich wieder den Fahrtwind, der ihr durchs offene Waggonfenster ins Gesicht blies und auch den Blick auf den draußen vorbeiziehenden grünen Gürtel der Zuckerrohrfelder. Ganz besonders liebte sie es, auf das „Meer“ hinüber zu sehen, wie man in ihrem Viertel den Nil nennt. Und wenn ein entgegenkommender Zug mit lautem Getöse vorbeirauschte, klammerte sich Mona kreischend an ihre Tante Samira. Es störte sie nicht, dass sie an ganz vielen Dörfern hielten und manchmal sogar an einer Bahnstation irgendwo am Rande der Wüste.
Je näher sie Kairo kamen, umso mehr wechselten die Passagiere von eher bäuerlichen Figuren zu typischen Großstädtern. Entsprechend unterschiedlich war auch deren Verhalten. Die Beobachtung jedenfalls, welche Mona kurz hinter Bani Suwayf machte, wäre hundertfünfzig Kilometer weiter südlich kaum vorstellbar gewesen. Ein junges Paar war eingestiegen und hatte auf der anderen Seite des Waggons Platz genommen. Die beiden schienen nichts um sich herum wahrzunehmen. Kaum hatten sie sich gesetzt, griff der junge Mann nach den Händen seiner Begleiterin und ihre Blicke versanken in den Augen des anderen. Irritiert sah sich Mona nach den Angehörigen der beiden jungen Leute um, konnte aber niemanden entdecken. War es wirklich vorstellbar, dass sie ohne Begleitung auf Reisen gegangen waren? Aber sie waren sicher nicht verheiratet, denn sie trugen keinen Ring. Diese junge Frau musste doch eigentlich wissen, dass es sich nicht schickt, sich in der Öffentlichkeit von einem Mann die Hand halten zu lassen. Mona sah zu ihrer Tante Samira, stellte aber fest, dass sie eingeschlafen war. Schnell blickte sie zum Fenster hinaus, um so zu tun, als hätte sie die Ungeheuerlichkeit der jungen Leute dort drüben gar nicht bemerkt. Schon bald aber begann ihr das andere Mädchen Leid zu tun. Offensichtlich war sie auf diesen Mann dort drüben hereingefallen, dessen Absichten eigentlich unverkennbar waren. Mona musste an Wael denken, jenen jungen Mann, dessen Schwester im Haus von Tante Samira wohnte. Er hatte um ihre Hand angehalten und mit dem Vater sogar schon die Al-Fatiha gesprochen.
Jeder Muslime kennt die Al-Fatiha, welches die erste Sure des Korans ist und auch die erste, die in der Schule gelehrt wird. Sie ist Bestandteil der täglichen Gebete und in einfachen, klar verständlichen Worten geschrieben: „Alles Lob gebührt Allah, dem Herrn der Welten, dem Allerbarmer, dem Barmherzigen, dem Herrscher am Tage des Gerichts! Dir allein dienen wir, und Dich allein bitten wir um Hilfe. Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, nicht den Weg derer, die Deinen Zorn erregt haben, und nicht den Weg der Irregehenden.“
Der Islam schreibt zwar im Falle einer Verlobung keineswegs die Rezitation der Al-Fatiha vor, dennoch aber ist dies in Ägypten und manch anderen islamischen Ländern längst Tradition. Durch das gemeinsame Sprechen der ersten Sure sollen die Abmachungen, die zwischen der Familie des künftigen Bräutigams und dem Vater der Braut zuvor ausgehandelt wurden, quasi vor Allah – dem Allerbarmer, des Barmherzigen – besiegelt werden. Nicht mehr und nicht weniger. Denn eine Verlobung ist im Islam kein Eheversprechen, sondern lediglich eine Absichtserklärung, weshalb sie auch leicht wieder zu lösen ist, ohne dass einer der Verlobten in Schande gerät. Eine Erfahrung, die Mona im Laufe der nächsten Jahre öfter machen wird, als es ihr gefällt. Die Verlobungszeit gilt als eine Zeit des Kennenlernens, aber ganz offensichtlich verstand die siebzehnjährige Mona darunter etwas gänzlich anderes, als der zwei Jahre ältere Wael.
Ich hatte ihn manchmal gesehen, wenn ich Tante Samira besuchte. Mir war schon aufgefallen, dass er mich beobachtete, wenn ich die Treppe hochging. Das war mir aber egal, weil er mir zwar nicht besonders gefiel, ich aber auch nichts gegen ihn hatte. Gegrüßt habe ich allerdings nur seine Schwester, die genauso hieß wie die Tochter von Tante Samira – Shaimaa. In unserem Viertel heißen viele Mädchen und Frauen Shaimaa. Wahrscheinlich nennen die Leute ihre Töchter so, weil dies der Name der Tochter von der Amme unseres Propheten Mohammed ist. Deshalb hat auch Tante Samira ihre Tochter so genannt, weil es heißt, dass die Stillschwester des Propheten einen besonders edlen Charakter gehabt haben soll. Und für die Tochter von Tante Samira trifft das auf jeden Fall auch zu. Eines Tages war die Mutter von dieser Shaimaa und von Wael zu meiner Tante Samira gegangen und hat ihr erklärt, dass ihr Sohn um meine Hand anhalten will. Meine Tante hat ihr gleich gesagt, dass wir auf einem Grabhof wohnen. Er kam trotzdem zu meinem Vater und er hatte sogar seine Mutter, seine Schwester und deren Mann dabei. Sie haben lange draußen im Hof gesessen und verhandelt und dann habe ich gehört, dass die Al-Fatiha gesprochen wurde. Da wusste ich, dass Wael nun mein Bräutigam war. Niemand hatte mich gefragt, ob er mir gefällt oder ob ich ihn liebe. Aber es war ja auch erst die Verlobung. Am nächsten Tag kam er mit den Verlobungsringen und mit noch einem goldenen Ring mit einem Stein, der mir sehr gut gefiel. Für meine Familie brachte er einen großen Korb voller Obst mit. Nach einigen Wochen saßen Wael und ich draußen im Hof und seine Mutter mit ihrer Tochter und dem Schwiegersohn, sowie meinen Eltern drinnen. Als hätte Wael nur darauf gewartet, dass wir beide allein sind, fing er damit an, dass er mit mir ausgehen wolle, um mich besser kennen zu lernen. Ich fragte ihn wozu? Wir können uns doch auch bei mir zu Hause kennen lernen. Schließlich hätten wir die Ringe getauscht und somit stehe das Haus jederzeit für ihn offen. Damit aber wollte sich Wael nicht begnügen. Er schlug vor mit mir Spaziergänge zu machen, ohne meine Eltern oder seine Mutter. Obgleich ich ja sonst eher ein ängstlicher Mensch bin, war ich es in diesem Augenblick überhaupt nicht. Ich sagte ihm, dass ich genau wüsste, was er vorhabe. Er wolle meine Hand halten und romantische Gefühle ausdrücken. Wael widersprach gar nicht. Da erklärte ich ihm klipp und klar, dass so etwas bei mir nicht läuft. Das könne er machen, wenn ich seine Frau bin. Da ist er aufgesprungen und hat gesagt, es müsse möglich sein, seiner Verlobten vorzuschlagen, miteinander spazieren zu gehen. Er wolle nicht immer nur zu Hause herumsitzen. Aber da hatte ich ihn längst durchschaut und das habe ich ihm gesagt. Ich hätte ihn durchschaut, erklärte ich ihm, er wolle mich nur testen und wenn ich darauf einginge, dann würde er mir vorwerfen, dass ich mir auch von anderen Männern die Hand halten lasse. Danach gab ein Wort das andere und weil ich plötzlich nicht mehr mit ihm verlobt sein wollte, habe ich den Ring abgezogen und vor ihm auf den kleinen Tisch gelegt. Dann ist Wael wütend aus dem Hof gerannt ohne den Ring mitzunehmen. Von unserem Streit angelockt, kamen nun die anderen heraus und fragten, was denn los sei. Als ich erzählte, weshalb ich die Verlobung gelöst habe, gab mir mein Vater sofort Recht. Waels Schwester versuchte anfangs noch einzulenken und sagte, sie wolle noch mal mit ihrem Bruder sprechen, aber ich wollte nicht mehr. Ich bestand darauf, ihnen sofort alle Geschenke zurückzugeben. Zumindest die beiden Ringe, denn mit dem Obstkorb ging das ja nun nicht mehr. Waels Mutter aber wollte mir den Ring mit dem schönen Stein schenken, schließlich hätte ich ja Ausgaben gehabt. Aber ich sagte ihr, dass diese Ausgaben für meine Aussteuer gewesen seien und die würde mir ja bleiben. Als sie gegangen waren, habe ich mich nicht traurig gefühlt. Ich war sogar erleichtert. An all das musste ich denken, als ich dieses junge Paar in dem Eisenbahnwaggon zwischen Bani Suwayf und Kairo beobachtete.
Es war schon später Nachmittag, als in der Ferne die vom Sonnenlicht in sattes Gold gefärbte Skyline von Kairo auftauchte. Kaum eine Viertelstunde würde Mona nun bleiben, um diese ihr fremde Welt vom Fenster ihres Waggons aus zu betrachten wie einen Hollywoodfilm im Fernsehen. Dann wird der Zug in die düstere und laute Bahnhofshalle der Ramses-Station einfahren. Gleich darauf wird wieder dieser Kampf losgehen, um einen Sitzplatz im Bus Nr. 50, der sie und Tante Samira auf direktem Wege aus den von Menschen überfüllten Straßenschluchten in die ruhige beschauliche Gräberstadt von Imam Al-Shafi’i bringen wird. Das alles kannte Mona von den früheren Reisen.
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