Hamdi reichte den Trauernden die mit Wasser gefüllten Gläser. Angesichts der nahezu unerträglichen Hitze wurden sie auch dankbar entgegen genommen. Vorn in der Tür zum Grabhof drückten sich zwei Halbwüchsige herum. Offenbar hatten sie mitbekommen, dass hier eine Bestattung stattfinden würde und erhofften sich ein Bakshish (Trinkgeld) wenn sie aus dem Koran rezitieren würden. Aber erst als Hamdi sie heranwinkte, betraten sie schüchtern den Grabhof, verbeugten sich vor der Trauergemeinde und gingen schließlich neben der geöffneten Grabkammer in die Hocke.
Bei Bestattungen verdienen sich Jungen durch Koranrezitationen etwas Geld
Koran-Rezitationen an Gräbern werden von den meisten Geistlichen und islamischen Rechtsgelehrten abgelehnt. Eine solche stimme nicht mit dem Verhalten des Propheten Mohammed überein, argumentieren sie. Der nämlich habe am Grab seines kleinen Sohnes Ibrahim zwar geweint und leise gebetet, nicht aber aus dem Koran rezitiert. Dennoch werden die Koran-Rezitatoren von den Trauernden nur selten zurückgewiesen. Denn die von ihnen geschickt ausgewählten Suren (Verse) spenden den Hinterbliebenen durchaus Trost und diese den Rezitatoren meist ein ordentliches Bakshish. Da für eine islamische Begräbnisfeier aus genannten Gründen kein verbindlicher Vortrag aus dem Koran vorgeschrieben ist, haben die listigen Rezitatoren längst Suren gefunden, die sich als besonders tröstlich und folglich auch als einträglich erweisen. Die Sure ‚An-Naba’ („Die Ankündigung“) zum Beispiel ist eine solche, in deren Absätze 31 bis 36 es heißt: „Die Frommen haben sich gerettet / Sie bekommen Gärten mit Weinreben / gleichaltrige Jungfrauen mit wohlgeformter Brust / und trinken aus vollen Kelchen reines Labsal. / Dort hören sie weder Gerede noch Lüge. / Das alles ist für sie eine Belohnung von deinem Herrn, Der ihnen seine Huld erweist …“
Haben die beiden Halbwüchsigen, die unisono diese symbolreiche Vision vom Paradies hersagten, etwa vorher gewusst, dass es sich bei der trauernden Hinterbliebenen nicht um eine Witwe, sondern um die Mutter eines jungen Mannes handelte? Jedenfalls war es ihnen gelungen, ihr ein seliges Lächeln auf das Gesicht zu zaubern, angesichts der Ankündigung paradiesischer Freuden, die dem Verstorbenen im Diesseits verwehrt geblieben waren. Nach einem stummen Blick der Verständigung stimmten die beiden Jungen, nicht ohne finanzielle Hintergedanken, die Absätze 27 bis 30 aus der Sure ‚Al Fadschr’ („Die Morgendämmerung“) an: „Oh du zuversichtliche Seele! / Kehre zufrieden und belohnt zu deinem Herrn zurück! / Tritt in die Schar deiner Diener ein! / Und tritt in meinen Paradiesgarten ein!“
Der Vater des verstorbenen Jungen drückte den beiden Rezitatoren einen größeren Geldschein in die Hand. Es blieb auch diesmal wieder eine hypothetische Frage, ob die Summe ebenso großzügig ausgefallen wäre, wenn sie aus der gleichen Sure auch den Absatz gesprochen hätten, den sie nicht ohne Grund weggelassen haben: „An jenem Tag erlegt Gott so peinvolle Strafen auf, wie es sonst niemand kann / und Er legt in Fesseln wie sonst keiner!“
Nie zuvor hatte Mona eine Bestattung aus nächster Nähe erlebt. Dies mag außergewöhnlich erscheinen für eine junge Frau, die nahezu ihr gesamtes Leben auf einem Friedhof verbracht hat. Natürlich war sie schon mehrfach Trauergesellschaften begegnet, wenn diese die kleine Moschee gegenüber aufsuchten. Bei einer solchen Gelegenheit hatte sie einmal die überraschende Beobachtung gemacht, dass die männlichen Gläubigen (deren Frauen sich in einem abgetrennten Raum aufhielten) während des Totengebets „Salat el Ganaza“ stehen blieben. Das Mädchen hatte es seinen Eltern erzählt, der Großmutter und sogar dem Lehrer Gamal, der an der Mittelschule Geschichte, Erd- und Sozialkunde unterrichtete. Allen war zwar bekannt, dass man sich während des Gebetstextes nicht verbeugt, aber niemand konnte ihr erklären, warum dies so ist. Vielleicht hätte ihr ja der Imam (Vorbeter) von der Moschee gegenüber sagen können, dass sich Muslime ausschließlich vor Gott verbeugen und nicht vor einem Toten. Aber sicher ist das nicht. Denn viele Imame haben in Fragen der eigenen Religion deutliche Wissenslücken, wie von Islamwissenschaftlern und Rechtsgelehrten in Kairo hinter vorgehaltener Hand immer wieder bedauernd festgestellt wird. Einige von denen wären sicher entsetzt, würden sie in Monas Aufzeichnungen lesen, was der benachbarte Imam ihrem Vater empfohlen hatte: Falls ein Verstorbener aufgrund eines Unfalls gestorben oder gar ermordet worden ist, soll sich mein Vater danach gründlich reinigen. Denn falls während des Sterbens Blut aus seinem Körper geflossen ist, steckt ein Teufel in ihm.
Vor ihrem Versteck vernahm Mona ein leises Wimmern. Es kam ganz offenbar von jener Mutter, die auf dem Weg zum Ausgang stehen geblieben war und noch einmal in die geöffnete Grabkammer hinunterblickte – auf den in Tücher gehüllten Leichnam ihres Sohnes. Es war kein lautes Klagen wie vorhin an der Moschee, sondern ein leises, schmerzvolles Wimmern. Mona erinnerte sich, ein solches vor wenigen Wochen schon einmal gehört zu haben. Exakt an diesem Ort, an welchem sie sich auch jetzt befand – wenngleich während eines eher gegenteiligen Anlasses.
Damals war ich auch nicht bei den Großeltern geblieben. Da ich am nächsten Tag eine Prüfung hatte und noch ein wenig lernen wollte, bin ich nach Hause gegangen. Meine Großmutter versuchte mich zurückzuhalten, aber ich bin einfach weggegangen. Und als ich zu Hause aus meiner Schublade die Schulsachen holen wollte, hörte ich aus dem Zimmer meiner Eltern ein Wimmern. Es klang ganz genauso wie das von dieser Mutter, die ihren Sohn bestatten ließ. Ich war natürlich neugierig und schaute auch an diesem Tag durch einen schmalen Schlitz im Vorhang, womit das Schlafzimmer meiner Eltern verschlossen worden war. Zuerst sah ich den Rücken meines Vaters und die Hebamme, die ganz in der Nähe vom Midan Sayeda Aisha wohnt. Aber damals kannte ich diese Frau kaum. Also, mein Vater war zu sehen und eine fremde Frau war zu sehen, die ständig hin- und herlief. Immer wieder hat sie sich zwischendurch die Hände gewaschen in der alten Plastikschüssel, in der ich schon damals unsere Kleidung wusch. Dazwischen hörte ich das Wimmern meiner Mutter. Als mein Vater zur Seite ging, erlebte ich die Geburt meines Bruders Karim. Und weil er sehr laut schrie, hörte man das Wimmern meiner Mutter bald nicht mehr. Als ich nun an diesem traurigen Tag ein solches Wimmern wieder hörte, ging mir der Gedanke durch den Kopf, wie nah der Anfang und das Ende des Lebens nebeneinander liegen. Nicht nur beim Wimmern der Mütter, sondern auch auf unserem Grabhof. Als mein Vater schließlich gemeinsam mit Hanafi die Grabkammer wieder mit den großen Steinplatten verschloss, war es für mich nicht mehr derselbe Hof wie zuvor. Ich hatte gesehen, wie der Leichnam dort hinunter getragen wurde und ich habe das Wimmern der Mutter gehört. Seitdem ist unser Zuhause für mich ein anderes. Seit jenem Tag weiß ich, wo ich wohne – dort, wo der Sohn dieser Mutter von nun an bis zum jüngsten Gericht liegen wird. Ich wurde sehr krank an diesem Nachmittag. Aber zuvor habe ich in meinem Versteck um den Jungen, den ich in seinem ganzen Leben nie zu Gesicht bekommen hatte, geweint. Und dann habe ich leise versprochen, diesen Ort zu achten und den Kaktus, der neben seinem Grabschild stehen wird, zu pflegen und regelmäßig zu gießen.
Monas Großmutter, die ebenfalls in der „Totenstadt“ lebt
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