Die Grundlage unserer gemeinsamen Arbeit bestand neben den Gesprächen auch in „Schreibtagen“, wie wir es nannten. Während ich die Disketten mit unseren Gesprächen abhörte und protokollierte, schrieb Mona ausführlicher über dieses und jenes, worüber wir uns zuvor unterhalten haben. Ich hatte sie gebeten, es direkt für unsere Leserinnen und Leser zu schreiben. Diese während der gemeinsamen Arbeit entstandenen Passagen unterscheiden sich – wie unschwer zu erkennen ist – von den eher inwendigen Betrachtungen der „aufgeschriebenen Gedanken“ in jenem Heft. An anderen Tagen wiederum unternahmen wir „Exkursionen“. Das bedeutet, dass wir uns an Orte und zu Menschen begaben, die zu irgendeinem Zeitpunkt für längere oder kürzere Zeit, manchmal nur für einen einzigen Tag, in Monas Leben eine Rolle gespielt haben.
Ich habe Hāšim vieles gezeigt, wo ich gelebt habe oder gearbeitet. Wir sind in Kairo zum Beispiel zur Staatsbank gegangen, wo ich ja noch gearbeitet hatte, als ich ihn kennen lernte oder zu den Schulen die ich zuvor besuchte. Manche dieser Exkursionen haben mir besonders viel Freude gemacht. Zum Beispiel, als wir noch einmal eine solche Schiffsfahrt auf dem Nil gemacht haben, wie ich sie an meinem achtzehnten Geburtstag mit meinen Freundinnen Safaa und Rania unternommen hatte. Es war fast genauso wie damals. Wieder waren Studenten auf dem Schiff und unterhielten sich über lauter Dinge, von denen ich nichts verstand und wieder hatte einer seinen Geburtstag gefeiert. Ich erlebte so meinen eigenen Geburtstag ein zweites Mal.
Um den Kern von Monas Gefühls- und Gedankenwelt zu erfassen, waren viele und lange Gespräche und eben jene „Exkursionen“ nötig. Doch beschreibt dieses Buch nicht etwa diesen gemeinsamen, gelegentlich mühsamen Weg zur authentischen Geschichte vom „Mädchen aus der Totenstadt“, sondern die Geschichte selbst. Mona aber hat auch den Weg dorthin als bedeutend empfunden. Jedenfalls bekannte die Einundzwanzigjährige am Ende dieser Arbeit in einem Interview gegenüber dem deutschen Fernsehjournalisten Niels Negendank:
Hāšim und Madame Hoda haben mir gezeigt, dass ich für etwas gut bin. Ich habe alles was in meinem Inneren vorging auf den Tisch gelegt und mich selbst wie von außen betrachtet. Ich habe Mona sehr gut kennen gelernt. Ich habe versteckte Sachen über sie erfahren, die ich nicht wusste. Ich habe die wahre Mona kennen gelernt! Mona Gerhard Haase-Hindenberg
Straßen in der „Totenstadt“ mit Blick auf Wohnhäuser im benachbarten Stadtbezirk Tonsy.
Seit jenem Tag weiß ich, wo ich lebe…
Es war einer dieser Tage, wie sie zwischen Juli und September die Regel sind, an denen die Luft brütend heiß über die Gräberstadt flirrt. Selbst vom nahen Mokkatam-Berg war kein kühlender Wind zu erwarten. Die staubigen Wege zwischen den Stelen der einfachen Begräbnisstätten und den hohen Mauern der Grabhöfe vermögenderer Familien waren nahezu menschenleer. Kaum einer machte sich in diesen Wochen von Downtown Kairo aus oder von den vornehmen Stadtvierteln westlich des Nils auf den Weg, um den Ahnen einen Besuch abzustatten. Und die Gemeinschaft derer, welche hier draußen in beengten Räumlichkeiten über den Mausoleen eine Wohnstatt gefunden haben, mutierte zu einer Zweiklassengesellschaft. Dividiert in Familien, deren Hof an die allgemeine Wasserversorgung angeschlossen ist und solche, die jenes lebensnotwendige Gut in großen Tonkrügen von oft weit entfernten Brunnen holen müssen.
Es war wenige Wochen vor Monas achtzehnten Geburtstag, als sie ihre Mutter und fünf ihrer damals sechs Geschwister zu den Großeltern begleiten musste, die zwei Straßen weiter wohnten. Dorthin, wo den beiden alten Leuten von einem Torabi (Grabmeister) ein kleiner, dunkler Raum zugewiesen wurde, nachdem sie vor drei Jahren aus jenem Grabhof vertrieben worden waren, in welchem sie Jahrzehnte gelebt hatten.
Niemand hatte mir gesagt, weshalb wir an diesem heißen Tag alle zusammen meine Großeltern besuchen mussten. Emad war nicht dabei, weil er kurz zuvor eine Arbeit in einer Autowerkstatt gefunden hatte und Samah war noch nicht geboren. Trotzdem ist es dort sehr eng gewesen. Normalerweise kommt die Großmutter ja immer zu uns, denn schließlich haben wir im Haus mehr Platz. Aber meistens sitzt sie in unserem großen Hof. Wahrscheinlich besucht sie uns immer dann, wenn sie mal für eine kleine Weile von meinem Gedi (Opa) wegkommen wollte. Der hatte nämlich ständig etwas an ihr auszusetzen. Aber das würde meine Teta (Großmutter) natürlich nie sagen. Früher war ich nur selten mit meinen Geschwistern zu den Großeltern geschickt worden. Dann aber war unsere Mutter nie dabei. Und jedes Mal wenn wir wieder nach Hause kamen, hatten wir ein Geschwisterchen mehr. Nach einer Stunde oder etwas länger hatte ich es an diesem Tag dort nicht mehr ausgehalten. Meine Schwester Sabrin quasselte die ganze Zeit und weil mein Gedi schwerhörig ist, fragte er dauernd nach. Sabrin wurde immer lauter und der kleine Karim begann zu schreien. Er war ja noch ein Baby. Meine jüngste Schwester Aya stritt sich mit Mahmoud. Der ist nur ein Jahr älter als sie, aber er spielte sich als ihr Beschützer auf. Dabei musste sie in dem Zimmer meiner Großeltern gar nicht beschützt werden. Mahmoud wollte nur zeigen, dass er was zu sagen hat, wie alle Jungens, die jüngere Schwestern haben. Die kleine freche Aya aber ließ sich das nicht gefallen. Dazwischen versuchte Hoda, meine zweitjüngere Schwester, ständig das lange graue Haar unserer Teta zu Zöpfen zu flechten. Aber die alte Frau wehrte sich. Schließlich setzte sie einfach das Kopftuch auf. Ich habe mich dann entschlossen, meine Tante Samira zu besuchen, die mit ihrer Familie wenige Straßenzüge entfernt wohnt. Nicht auf einem Grabhof. In einem dieser dreistöckigen Häuser hinter der Moschee Imam Al-Shafi’i. Meine Mutter hatte nichts dagegen. Es ist immer nur mein Vater, der mir oft nicht erlaubt zur Wohnung seiner Schwester zu gehen und ich weiß nicht mal, warum. Natürlich wollte Sabrin unbedingt mitkommen. Aber ihr Gequassel war es doch, weshalb ich von dort wegwollte. Und bei Tante Samira würde das ja auch so sein – ich kannte das von früheren Besuchen. Sabrin würde ihre schrille Stimme wieder mal höher und höher schrauben. Ich hätte dann keine Gelegenheit, meiner Lieblingstante, die ich mehr liebte als meine Mutter, all die Dinge zu erzählen, die mir auf dem Herzen lagen. Und auch nicht, weil Sabrin es hinterher vor der ganzen Familie ausplaudern würde. Deshalb ging ich allein los …
Das dünne Baumwollkleid klebte an Monas Körper und der Schweiß lief ihr in schmalen Rinnsalen über das Gesicht. Der Mund des Mädchens war vollkommen ausgetrocknet, weshalb sie sich auf den eiskalten Karkadee (Malventee) freute, den sie bei Tante Samira bekommen würde. In deren Küche existierte nämlich der Luxus eines alten, ziemlich laut brummenden Kühlschrankes.
Wie schon manches Mal zuvor, wenn Mona auf dem Weg zu einer ihrer zahlreichen Tanten und Onkeln war, sah sie vor ihrem geistigen Auge jenes Schaubild, das einst die Lehrerin an die Tafel gemalt hatte. Es sollte helfen, den Schülern Verwandtschaftsverhältnisse zu erklären. Ganz oben auf dieser Tafel standen die Eltern, also Vater und Mutter. Darunter deren Geschwister, welche Onkel und Tanten sind, deren Kinder und Enkel wiederum nennt man Cousin und Cousine, sowie Großcousin und Großcousine. Es gab dann noch die Verwandtschaftsbeziehungen von Nichten und Neffen, von Schwägerinnen und Schwager … – aber damit waren seinerzeit die meisten Kinder die in der Gräberstadt „Imam Al-Shafi’i“ aufwuchsen, schon hoffnungslos überfordert. Und bald war es die Lehrerin auch. Denn eine mehrfache Doppelung solcher Verwandtschaftsverhältnisse, wie hier draußen in der Totenstadt durchaus üblich, kommt in der ihr vertrauten städtischen Umgebung kaum vor. Monas Vater Hamdi zum Beispiel hat seine Cousine Nassra geheiratet und so ist Mona – die Tochter der Cousine ihres Vaters – zugleich ihre eigene Großcousine. Aber auch Nassras Bruder Mahmoud hat seine Cousine geheiratet, nämlich Hamdis Schwester Samira – jene Lieblingstante Monas. Somit ist das Geschwisterpaar Hamdi und Samira ebenso miteinander verschwägert, wie Nassra mit ihrem Bruder Mahmoud. Und Mona ist nicht nur die Nichte ihrer Tante Samira, sondern auch deren Großcousine. Wie immer, wenn Mona versucht, sich über diese sie verwirrenden Verwandtschaftsverhältnisse klar zu werden, begann ihr der Kopf zu brummen und an diesem Tag trug dazu auch noch die fast unerträgliche Hitze bei. Gedankenverloren ging sie an dem um diese Zeit gut besuchten Khahwa (Kaffeehaus) vorbei, ohne auf die ausschließlich männliche Kundschaft zu achten, von denen die meisten Mona mit Blicken verfolgten. Sie alle waren Bewohner von Grabhöfen oder lebten mit ihren Familien in den angrenzenden, meist dreigeschossigen Wohnhäusern. Ortsfremde sind in diesem Khawa nicht zu finden, auch wenn der große, elegant gekleidete Mann im Durchgang zur Tür so aussieht als gehöre er nicht hierher. Hier draußen aber kennt jeder den Mann, der stets einen dreiteiligen Anzug mit Krawatte trägt und den alle „Professor“ nennen. Denn diesen Titel trägt er, der schon sein ganzes Leben in einem Wohnhaus hinter der Moschee lebt, zu Recht. Auch Mona hatte gehört, dass dieser Mann an der Universität in Kairo arbeite. Genaueres aber hat hier draußen nie jemanden interessiert, obgleich die Männer im Khawa stolz sind, dass es jemand aus ihrem Viertel so weit gebracht hat. Deshalb hören sie ihm gern zu, wenn er ihnen gelegentlich etwas über die Geschichte ihrer Gegend erzählt. Zum Beispiel die Legende, dass der Erste den man in diesem Gebiet bestattet habe, Mokkatam geheißen hätte – wie jener Berg einige Kilometer nördlich. Der soll angeblich ein Enkel von Noah gewesen sein. An dieser Stelle lacht der Professor immer und sagt: „Da muss Noah aber sehr, sehr alt geworden sein, denn die ersten Grabstätten sind hier bei uns erst seit dem 9. Jahrhundert überliefert. Das war das Jahrhundert, als Sheikh Imam Al-Shafi’i, der drüben in der Moschee in dem Sarkophag liegt, gestorben ist.“
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