Die kleine Grundschule, die ausschließlich von Kindern aus den Grabhöfen besucht wird, ist nur wenige hundert Meter von Monas Zuhause entfernt. Als ebenerdiger Bau zwischen Gräbern ist das Schulgebäude von außen als solches nicht erkennbar. Mahmoud und seine kleine Schwester Aya gehen noch immer dorthin und zweimal in der Woche nachmittags deren Mutter Nassra – zu jenem Alphabetisierungsprojekt, für das Ägyptens „First Lady“ Susanne Mubarak die Schirmherrschaft übernommen hat. An jenen Ort, an dem Mona einst ihre schulische Laufbahn begonnen hatte. Am Ende des ersten Schuljahres spielte sich hier jenes Ereignis ab, welches Mona später als ihr schönstes Kindheitserlebnis bezeichnen wird. Es war der Nachmittag nach dem letzten Schultag, als Mona ihre Mutter drängte, mit ihr hinüber zum Schulhof zu gehen. Mona war Nassras ältestes Kind und daher das erste, welches eine Schule besuchte. Schließlich warteten sie gemeinsam voller Erwartung auf den Aushang, der darüber informieren würde, welche Schüler in die nächste Klassenstufe versetzt worden waren und welche nicht. Als der Aushang dann endlich kam, musste die siebenjährige Mona feststellen, dass ihre Mutter diesen ebenso wenig lesen konnte, wie sie selbst. Es war die Schulpförtnerin die schließlich Monas Versetzung vermelden konnte. Fröhlich hatte Nassra die kleine Mona an der Hand genommen und auf dem kurzen Heimweg mehrfach jenen Triller von sich gegeben, wie er als Ausdruck von Freude und Anerkennung üblich ist. Der Triller entsteht, in dem man ganz schnell die Zungenspitze hin- und herbewegt und gleichzeitig einen hohen Ton ausstößt. Auf Hochzeiten kommt solch ein Triller zum Einsatz und alljährlich am Tag der landesweiten Verkündung der Abiturergebnisse ist er vielerorts in Kairos Straßen zu hören. Nun zollte Nassra ihrer Tochter damit Anerkennung und dies war für Mona jenes schönste Kindheitserlebnis . Eigentlich verbindet Mona noch ein zweites „schönes Kindheitserlebnis“ mit diesem Schulgebäude, welches zeitlich sogar noch davor liegt. Aber sie würde es niemals so nennen, weil diesem ein entsetzliches Ereignis vorausgegangen war. Auf den Tag genau einen Monat nach Monas erstem Schultag, bebte am Montag den 12. Oktober 1992 um 15.09 Uhr in Kairo die Erde – wenige Minuten nach Schulschluss. In der offiziellen Verlautbarung am kommenden Tag erfährt die interessierte Öffentlichkeit, dass das Epizentrum bei 29,5 Grad Nord / 31 Grad Ost gelegen und eine Stärke von 5,9 gehabt habe. Und weil sich unter dieser Ortsangabe offenbar kaum einer etwas vorstellen konnte, war dessen Lage mit „in der Nähe der Pyramiden“ beschrieben worden. Auf den Grabhöfen hatte man die Hoffnung, dass es weit genug entfernt sein würde, um für das Gebiet von Imam Al-Shafi’i ernsthafte Folgen zu haben. In der Nähe jedenfalls hat noch keiner je Pyramiden gesehen. Und so waren am Ende tatsächlich keiner der fünfundsechzig Toten und nur einige der mehr als vierhundert Verletzten hier draußen zu beklagen. Die Schüler der Grundschule mussten jene Naturgewalt im Schulhof eingesperrt erleben, wo sie zum Schulschluss üblicherweise darauf warteten, dass ihnen die Schulpförtnerin die große Eisentür aufschloss. In dieser Situation erlebten sie, wie die Erde zu zittern begann, die Fensterscheiben zerbarsten und ein alter Baum in der Ecke des Hofes umknickte. Die Kinder fingen an zu schreien und die Kleineren krallten sich in ihrem Schrecken an den Älteren fest. Mona war vor Angst wie angewurzelt stehen geblieben und brachte keinen Ton heraus. Das ganze Ereignis dauerte kaum eine Minute, dann hatte sich die Erde wieder beruhigt. Nun erst kam die Schulpförtnerin aus dem Haus gelaufen und schloss die Eisentüre auf. Zwei Eindrücke haben sich in Monas Erinnerung eingeprägt. Zunächst der, dass sie und die anderen Kinder in ihrer Not allein gelassen worden waren. Keiner der Lehrer war zu ihnen gekommen. Und auch, als dann das Hoftor geöffnet worden war, hatten die Lehrkräfte geradezu panisch das Weite gesucht, ohne sich darum zu kümmern, ob es unter ihren Schülern möglicherweise Verletzte gab. Mona fühlte sich von jenen verlassen, zu denen sie bis dahin aufgeblickt, ja diese geradezu verehrt hatte. Der zweite Eindruck war ein positiver und er hätte ebenfalls zu einem der „schönsten Kindheitserlebnisse“ werden könne, wäre damit eben nicht jenes schreckliche Ereignis verbunden.
Als ich mit den anderen Schülern langsam vom Schulhof auf die Straße hinausging, sah ich den Mann auf mich zukommen, der neben unserem Hof den kleinen Kiosk betreibt. Er nahm mich auf die Arme und trug mich nach Hause. Er versuchte mich zu beruhigen. Er erzählte mir, dass sich meine Mutter große Sorgen gemacht habe und ihn zur Schule hinüber geschickt hätte, um mich zu holen. Sie musste ja zu Hause drei Kinder beaufsichtigen. Die Kleinste war damals Hoda, die kurz zuvor geboren worden war. Wie sollte meine Mutter da zur Schule kommen? Aber es hat mich gefreut, dass sie den Nachbarn nach mir schickte. Und als er mich dann auf seinen starken Armen nach Hause getragen hatte, setzte meine Mutter die schreiende Hoda einfach auf den Fußboden und schloss mich in ihre Arme. Sie weinte Freudentränen und strich mir immer wieder mit der Hand über den Kopf. Wie oft habe ich mich später danach gesehnt, dass sie das noch einmal machen würde? Aber natürlich wollte ich nicht, dass zuvor ein Erdbeben stattfindet.
Nur wenige der Grabhof-Kinder wechseln nach der sechsten Grundschulklasse auf die Mittelschule im angrenzenden Stadtbezirk Tonsy. Bei Mona war lange unklar, ob man sie dorthin schicken würde, obgleich die Lehrerschaft das zurückhaltende schöne Mädchen ins Herz geschlossen hatte. Als sich aber nach der Wiederholung der fünften Klasse zeitweilig Monas Zensuren verbesserten, gab man ihr diese Chance.
Die Gebäude der Mittelschule im benachbarten Tonsy
Mona in ihrem ehemaligen Klassenraum
Ich kam auf die Mittelschule. In dieser Zeit mochte ich besonders Musik, Malen und auch Sport, der meinen Körper erfrischte, obwohl ich damals nicht so schlank war wie heute. Es waren schöne Jahre, an die ich immer gern zurückdenke – die schönsten Jahre meines Lebens. Ich vermisse meine Lehrer, meine Lehrerinnen, die sich mit mir viel Mühe gegeben haben. Aber trotzdem hatte ich am Ende des dritten Jahres der Mittelstufe zwei Nachprüfungen, die ich zwar bestand, aber mit sehr schlechten Noten. Ich verstand nicht viel und konzentrierte mich zu wenig auf die Fragen. Ich dachte nur an meine Hobbys: Malen und Musik. Ich hatte wenig Kontakt zu meinen Mitschülerinnen, die mich immer ärgerten, weil ich anders war. Sie zogen mir die Spangen aus den Haaren und schmissen sie aus dem Klassenfenster oder kippten meine Schultasche aus. Aber ich habe mir nichts anmerken lassen. Das hat sie sehr geärgert. Sie konnten ja nicht wissen, dass ich auf dem Heimweg oft geweint habe.
Mona galt in ihrer schulischen Umgebung weniger deshalb als Außenseiterin, weil sie malte und Musik liebte, als vielmehr, weil sie aus der „Totenstadt“ kam, wie ihr Wohngebiet auch hier genannt wurde. Ihre Klassenkameradinnen aus den Mehrfamilienhäusern in Tonsy oder Imam-el-Leithy wohnten keineswegs exklusiver, ihre Väter hatten nicht unbedingt eine höhere Bildung als Monas Vater Hamdi und bestenfalls ein unwesentlich höheres Einkommen. Dennoch nutzten einige von ihnen die Herkunft aus einer anderen Wohngegend, um sich über sie zu erheben. Dies geschah nahezu unwidersprochen, weil Mona in ihrer Klasse das einzige Mädchen gewesen ist, das auf einem Grabhof zu Hause war. In den Parallelklassen waren die Grabhofkinder zu zweit oder zu dritt und konnten sich folglich miteinander gegen die anderen solidarisieren.
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