Als er ins Wohnzimmer zurückgeht, fällt sein Blick auf das Foto seiner Großeltern, das in der Mitte der linken Wand hängt. Er ist schon unter der Erde, sie ist noch auf der Erde. Und ich, er überlegt kurz, und ich bin heute Nachmittag für ein paar Sekunden zwischen Himmel und Erde. Ich werde es schaffen. Er sieht auf seine Uhr, wundert sich, wie früh es noch ist. Er geht in die Knie und lässt seine Augen zunächst unschlüssig über seine CD-Sammlung gleiten. Dann wählt er französische Chansons aus, mit denen er die noch verbleibende Zeit überbrücken wird.
Ich bin eine Art Hure, denkt Wiegand von sich, ich prostituiere meinen Körper. Eine Selbsteinschätzung, mit der er gut zurechtkommt. Denn um Geld zu verdienen, stellt er seinen Körper gern zur Verfügung. Es gibt für ihn keine passendere Tätigkeit. Wie er eine fremdbestimmte Kopfarbeit innerhalb einer streng geregelten Bürozeit aushalten könnte, entzieht sich seiner Vorstellung. Zweifellos würde er jede Büroarbeit als Tortur empfinden und daran erkranken. Allein schon aus Gesundheitsgründen will er nicht sitzend seinen Lebensunterhalt verdienen. Er lebt sehr gesundheitsbewusst. Er besitzt nur diesen einen Körper. Für ihn gibt es nichts Wertvolleres. Mit seinen 28 Jahren sieht er sich auf dem Höhepunkt seiner körperlichen Leistungsfähigkeit angelangt. Danach lebt er. Er weiß, dass dieses Hoch befristet ist, die Zeit dagegen arbeitet. Nun kommt es für ihn darauf an, das Können und die Form seines Körpers zu bewahren. Er hat etwas aus seinem Körper gemacht. Er misst sich an ihm. Er trainiert ihn weiter, damit er nicht nachlässt. Es war und ist eine freiwillige Dressur. Er beherrscht seinen Körper. Auf ihn kann er sich verlassen. Was er leistet, liegt weiter über dem Durchschnitt. Sein Körper zeichnet ihn aus. Dafür gibt es eindeutige Bewertungen. Seine Körperkultur hält er für weitaus wichtiger als seine Hirnkultur. Die lässt sich ohne Weiteres aufschieben, seine Körperkultur jedoch nicht, deren größter Gegner ja die Zeit ist. Erst dann will er sich um seine Weiterbildung bemühen, wenn er seinen körperlichen Zenit überschritten hat, es spürt und seine geistigen Bedürfnisse stärker geworden sind, vielleicht ab dreißig. Einige Meter Bücher wird er dann wohl, so schätzt er, bewältigen müssen, um sich eine gewisse Hirnkultur anzutrainieren. Doch das kann er aufschieben. Alles zu seiner Zeit. Noch thront sein Körper. Die Selbstsicherheit und die Genüsse, die er ihm vermittelt, prägen sein Leben. Er neigt zum Körperfanatismus, was er auskostet.
Von der Natur fühlt sich Wiegand bevorzugt behandelt. Sein Äußeres wertet er als außergewöhnlich gut gelungen. Es zieht an. Ein großes Plus für ihn. Aber er hat auch das Seine dazu beigetragen. Systematisch hat er seinen Körper ausgebildet, ihn dabei geformt, seine heutige Gestalt mitbestimmt. Sein Körper ist auch sein Werk. Wenn er sich nackt vor dem Spiegel betrachtet und den Panoramablick auf sich selbst genießt, dann fühlt er sich gestärkt.
Seine Maße: 188 Zentimeter groß, 84 Kilogramm schwer, 116 Zentimeter Brustumfang, 83 Taille, 86 Hüfte; Zentralglied: 12,3 Zentimeter ruhend und 18,5 Zentimeter stehend. Sein Körper funktioniert auf eine ihn beglückende Weise. Für Mediziner ist er bestimmt eine Provokation. An ihm können sie ja nichts verdienen. Für sie ist er zu gesund. Die Werte, die er bei regelmäßigen Gesundheitschecks erzielt, sind hervorragend.
Er ist stolz auf seinen Körper. Als er noch das Kunstturnen als Leistungssport betrieb, war sein Körper zwar muskulöser, leistete kräftemäßig mehr, dafür aber ist er heute geschmeidiger und besser proportioniert, was er höher bewertet. Sein Körper charakterisiert ihn. Er gleicht dem eines Zirkusartisten. Zufrieden kann er auch mit seinem Gesicht sein, vor allem mit seinem Profil, das, wie man ihm wiederholt versichert hat, sehr ebenmäßig geschnitten ist. Seine blaugrauen, mittelgroßen Augen, die von dunklen Wimpern umgeben sind, scheinen ihm widerzuspiegeln, dass er gern lebt. Sein Blick ist offen, Sympathie fördernd. Beinahe faltenlos erhebt sich über seiner Augenpartie seine kantige Stirn. Eine energisch wirkende Falte beginnt sich senkrecht zwischen seinen Augenbrauen einzukerben, Ausdruck seiner jahrelangen, oft großen körperlichen Anstrengungen. Seine gerade Nase verbreitert sich zur Spitze hin, die von schön geformten Nasenflügeln betont wird. Seine Lippen sind voll, haben eine ausgeprägte Linienführung. Hin und wieder fragt er sich, ob sein Gesicht nicht zu gleichmäßig geschnitten ist, ihm eigenwilligere Züge doch besser gefallen würden. Eine mehr spielerische Frage, die er offen lässt. Sein Gesicht stärkt sein Selbstbewusstsein.
Eine Einheit bilden für ihn sein Äußeres und das Leben, das er führt und auch weiterhin führen will. Er hofft, dass sich daran noch lange nichts ändern wird. Bis sein Körper nachlässt und sein Verfall beginnt. Irgendwann einmal wird es geschehen. Das empfindet er als die größte Bedrohung seines Lebens. Sein Verfall wird unvermeidlich sein, auch wenn er sich gezielt dagegen wehren wird. Zwar natürlich, aber schwer erträglich. Glücklicherweise liegt solch eine Zukunft für ihn noch in weiter Ferne.
Wiegand hat sowohl eine enge Beziehung zu seinem Körper als auch zu sich selbst. Er nimmt sich wichtig. Diese Grundeinstellung verleugnet er weder vor sich noch vor anderen. Es ist für ihn naheliegend seine eigene Wichtigkeit zu bejahen. Eine Selbstverständlichkeit. Schließlich bin ich lebenslang mit mir zusammen. Bis dass der Tod mich scheidet. Er fühlt sich tief in sich verwurzelt. Seine wirkliche Heimat. Um für sich durchschaubar zu sein und zu bleiben, denkt er oft über sich nach. Er möchte nicht von sich selbst überrascht werden. Je besser er sich kennenlernt, desto mehr hat er von sich. Eine einfache Kalkulation für ihn. Er schiebt sich nicht auf. Das kann er sich nicht erlauben. Seine Zeitform ist die Gegenwart. Er will sich auf seine eigene Art ausleben. Nichts erscheint ihm wichtiger. Was er für sich braucht, das besitzt er. Seine Einstellung zum Leben ist sportlich. Man muss es gut trainieren, dann gelingt es.
Eldorado kurz nach vier Uhr Mitteleuropäischer Zeit:
Der Luftdruck beträgt 1029 Hektopascal, die Luftfeuchtigkeit 71 Prozent, die Temperatur liegt bei 23 Grad, ein schwacher Wind weht aus südöstlicher Richtung und ein wolkenüberwucherter Himmel schirmt die Sonne ab.
Die Sprungbedingungen sind günstig. Noch steht Wiegand auf dem Rasen des Freizeitparks. Er trägt einen orangefarbenen Overall, auf dessen Brust- und Rückenseite »10 Jahre Eldorado« halbkreisförmig und mehrfarbig aufgedruckt ist. Wenige Meter hinter ihm liegt ein riesiger, dunkelblauer Luftsack, eine Spezialanfertigung, deren Zuverlässigkeit Tests bestätigt haben. Auf dieser mit der Luft Bayerns gefüllten 11 Meter langen, 9 Meter breiten und 3 Meter hohen Synthetik-Masse wird aller Voraussicht nach sein Körper gleich aufschlagen und sein Sprung enden.
Wiegand wird jetzt von Mander, dem Geschäftsführer des Freizeitparks, den dicht gedrängt stehenden Schaulustigen präsentiert.
»Wir kommen nun, liebe Freunde von Eldorado, zu einem weiteren Höhepunkt in unserem Programm, wenn nicht sogar zu dem absoluten Top-Ereignis unserer Jubiläumsveranstaltung, mit der wir das zehnjährige Bestehen dieses größten bayerischen Vergnügungsparks gebührend feiern wollen. Kurt Wiegand, einer der besten deutschen Sensationsdarsteller, bekannt durch seine tollkühnen Auftritte in Film und Fernsehen, wird Ihnen nun etwas Einmaliges, ja, etwas wirklich Atemberaubendes vorführen. Mithilfe dieses Autokrans, den uns freundlicherweise die Firma Dettinger & Riedel zur Verfügung gestellt hat, wird er in Kürze auf die luftige Höhe von 55 Metern transportiert werden und von dort aus einen doppelten Salto springen. Eine riskante Sache. Er wird dabei tief fallen. Wie sie sich alle sicherlich leicht vorstellen können, muss er nach seinem Sprung unbedingt auf diesem Luftsack landen. Sonst ... aber darüber möchte ich jetzt lieber nicht reden. Sowohl für deutsche Verhältnisse als auch international gesehen, stellt solch ein Sprung eine Sensation dar. Ich bitte Sie, doch nur einmal zu bedenken, wie einfach es sich dagegen die weltberühmten Klippenspringer von Acapulco machen, die sich bloß kopfüber nach unten stürzen und dazu noch einen ganzen Ozean voller Wasser unter sich haben. Nun, die Geschäftsleitung von Eldorado weiß den Sprung, den Kurt Weigand jetzt gleich wagen wird, richtig einzuschätzen. Deswegen und gewissermaßen auch als eine Art Jubiläumsprämie haben wir für diese Sprung-Sensation das sensationelle Honorar von 5000 Euro vorgesehen. Nach seinem, das hoffen wir doch alle, geglückten Sprung wird Kurt Wiegand diesen Scheck aus meiner Hand in Empfang nehmen können. Es geht hier also auch um eine Menge Geld. Eine Bitte habe ich noch an Sie, liebe Freunde von Eldorado: Übertreten Sie bitte nicht die Markierungslinien auf dem Rasen. Der Sicherheitsabstand zum Luftsack muss unbedingt eingehalten werden. Vielen Dank für ihr Verständnis. Und nun wünsche ich Ihnen allen eine gehörige Portion Nervenkitzel und Ihnen, lieber Kurt Wiegand, Hals- und Beinbruch.«
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