Seine Darbietungen dauern nicht lange. Man braucht ihn zwar, aber er spielt nur für kurze, aktionsgeladene Szenen eine Rolle. Er gehört zu den nützlichen Randfiguren, die wenig kosten. Er fühlt sich unterbezahlt. Vor allem die Summen, die er als Double verdient, erscheinen ihm oft als lächerlich gering angesichts der Tatsache, dass er dabei ein Risiko auf sich nimmt, das dem Schauspieler nicht zugemutet wird, er eine bemerkenswerte Leistung darstellt und vortäuscht, die den Anschein erwecken soll, als würde sie von dem gedoubelten Schauspieler vollbracht.
Je nach Gelegenheit schauspielert er auch selbst in kleinen Nebenrollen, die er problemlos bewältigt, weil in ihnen das Körperliche eindeutig im Vordergrund steht. In letzter Zeit mehren sich derartige Engagements. Aber er fühlt sich deswegen nicht als Schauspieler. Er macht bei Dreharbeiten mit, bringt seinen Körper ins Spiel, zeigt, was er kann. Dafür bekommt er Geld. Das ist alles. Bisher hat ihm noch kein Film gefallen, in dem er in einer Nebenrolle mitgespielt hat.
Seinen Lebensunterhalt verdient er auch in Vergnügungsparks, bei Firmenfeiern und auf Werbeveranstaltungen, wo er alleine oder mit anderen zusammen publikumswirksam auftritt, für Sprünge, Stürze, Kampfsportdemonstrationen und Showeinlagen bezahlt wird.
Vom herb-frischen Duft des Eau de Toilette umströmt, das er sich nach dem Duschen auf die athletische Brust gesprüht hat, steht Wiegand vor dem aufgeklappten Wohnzimmerfenster und blickt auf die Bäume am Straßenrand. Sie zeigen ihm an, dass nur ein leichter Wind weht. Eine Windstärke, die für seinen Sprung nicht ins Gewicht fällt. Erst ab Windstärke sechs würde er nicht springen. Wie von den Meteorologen vorhergesagt: Temperaturen bis zu 25 Grad, schwacher Wind aus Südost, gegen Mittag aufkommende Bewölkung. Er sieht einer Amsel zu, wie sie reife Beeren von den Zweigen einer Esche schnäbelt und frisst. Einige Beeren fallen auf den Bürgersteig, der menschenleer ist. An den am Straßenrand geparkten Wagen fährt ein Schulbus vorbei. Die Jalousien der Bäckerei sind heruntergelassen. Im Haus gegenüber döst vor dem weit geöffneten Fenster eine massige Frau in einem ärmellosen Kittel, ihre Brüste über ihre aufgestützten Arme knautschend. Neben ihr putzt sich ein Stubentiger. Ein Fahrrad lehnt an der Mauer des Uhrengeschäfts, dessen Schaufenster vergittert ist. Die allgemeine Mittagsstarre in Alsbach widert ihn an. Nur der Briefkasten hat jetzt geöffnet, denkt er. Und das katholische Klubhaus. Jeden Tag durchgehend. Der liebe Gott macht keine Mittagspause. Wie konnte ich nur in dieses dumpfe Nest ziehen? Seit vier Monaten wohnt er in Alsbach und fast genauso lange weiß er auch, dass es ein Fehler war, dieses 42 Kilometer von München entfernte und an den bajuwarischen Einheitsstil angepasste Dorf als Wohnort zu wählen. Seine anfänglichen Bedenken missachtend, hatte er der Verlockung, hier preiswert und gesund leben zu können, nachgegeben. Heute eine Torheit ohnegleichen für ihn. Er hätte sich nicht über Tatsachen hinwegtäuschen dürfen. Die Ruhe und Langsamkeit hier, die bäuerlich genormte Landschaft und die langen Fahrzeiten nach München fielen ihm schon bald auf die Nerven. In seiner Wohnung fühlte er sich nie zu Hause. Vorige Woche hat er sie fristgemäß gekündigt. Er gehört nach München, den ganzen Tag. Da herrscht die Atmosphäre, die er braucht, da fühlt er sich mitten im Leben. Eine neue Wohnung hat er noch nicht gefunden.
Das Telefon läutet. Vielleicht ist es Ingrid. Er sieht nicht zu dem Telefon, das sich in Griffweite neben ihm befindet, zögert kurz, entschließt sich dann, sich nicht zu melden. Er will jetzt mit niemandem sprechen. Wiegand wendet sich vom Fenster ab und geht zu einem der Polstersessel, die aus verschiedenen Sitzgruppen stammen. Er stellt sich mit dem Rücken zum Sessel, legt die Hände auf die abgenutzten Lehnen, stützt sich ab, hebt seine Beine hoch, streckt sie parallel zum Boden aus, zieht sie an und streckt sie wieder. Das wiederholt er mehrere Male. Danach lässt er sich in den Sessel fallen.
Er trägt eine schwarze Baumwollhose und ein weit geschnittenes, olivgrünes Seidenhemd; seine unbestrumpften Füße werden von mokassinartigen, dunkelbraunen Schuhen flach umschlossen. Prüfend atmet er tief durch die Nase ein. Der Duft ist schon merklich schwächer geworden. Er hat sich doch nicht zu stark parfümiert. Bald wird der Duft so weit verflogen sein, dass man ihn nur noch in seiner unmittelbaren Nähe wahrnehmen kann. Er lächelt versonnen. Ingrid mag's, und ich habe mich daran gewöhnt. Vor zwei Wochen hat sie es mir geschenkt. Ein raffiniert zurückhaltender Duft, ich habe ziemlich lange nach einem besonderen Eau de Toilette für dich gesucht, hat sie gesagt und es mir sofort auf den Nacken getupft. Manchmal nimmt sie es auch. Gestern hat sie sich damit ihre Brüste parfümiert. Roch gut. Kenne keine Frau, die eine so empfindliche Nase hat wie sie. Die meisten Männer riechen genauso schlecht wie Pferde, meint sie. Beschnüffelt mich genüsslich, seitdem ich das Eau de Toilette nehme. Frauen haben ja von Natur aus eine feinere Nase als Männer. Trotzdem werden Parfüms meistens von Männern ausgetüftelt. Für Ingrid ein Skandal. Sollen gut dabei verdienen. Bestimmt besser als ich. Auch ein Beruf. Männer mit einer hoch dotierten Nase. Verdammt! Wiegand schlägt mit der Faust auf die Sessellehne, aus der Staubpartikel wirbeln. Ich habe mich von Mander einschüchtern lassen. Wie der mich abgespeist hat. 5000 Euro sind einfach zu wenig für meinen Sprung. Gerissener Kerl, der Mander. Muss sich gewundert haben, dass ich so schnell nachgab und nicht mehr mit ihm weiterfeilschen wollte. Habe mich bluffen lassen und dadurch mindestens 2000 Euro verloren. Ich hätte mehr herausschlagen müssen. Das sagen alle. Vorbei. Eine Lehre für mich. Die 5000 kann ich gut gebrauchen. Der Umzug nach München wird mich einiges kosten. Habe mit einem Sprung noch nie so viel verdient. Trotz allem, ein fabelhafter Sekundenlohn.
Wiegand streckt seine rechte Hand aus, dreht sie zweimal schnell aus dem Handgelenk und lässt sie nach unten fallen. Er sieht zu der Plexiglasuhr, eine Werbeprämie, die in einem Fach des zimmerhohen Allzweckregals steht. Sie zeigt ihm sechs Minuten nach eins an. Noch knapp drei Stunden. G gleich neun Komma acht eins Meter pro Sekunde zum Quadrat, denkt Wiegand, während er sich ein Glas Mineralwasser einschenkt. Noch einmal wiederholt er das Fallgesetz, das für alle zur Erde fallende Körper gilt: g gleich neun Komma acht eins Meter pro Sekunde zum Quadrat. Er sagt es sich wie eine Beschwörungsformel auf. Eine Angewohnheit, die bis in die Zeit zurückreicht, in der er sich als Kunstturner bei Wettkämpfen konzentrierte. Physikalische Gegebenheiten interessieren ihn im Grunde nicht, aber diese eine Formel schätzt er über alle Maßen, weil in dem g = 9,81 m/sec² die ununterbrochene Wirkung der Erdanziehung zum Ausdruck kommt, eine Wirkung, die in seinem körperbetonten Leben eine äußerst bedeutsame Rolle spielt. Besonders dann, wenn er auf Honorarbasis riskante Sprünge oder Stürze wagt. Es vergeht selten ein Tag, an dem die Formel nicht mindestens einmal kurz seine Gedanken angezogen hätte. Heute kommt sie ihm oft in den Sinn. Diesem Fallgesetz wird er um vier Uhr folgen müssen. Es ist übermächtig, denkt er. Nicht auszuschalten. Ich habe meinen Sprung bestens geplant. Man müsste fliegen können.
Er hebt die Arme über den Kopf und streckt sich mit einem wohligen Aufstöhnen so weit, wie es sein Bewegungsapparat zulässt. In dieser Stellung verharrt er einige Sekunden. Dann steht er auf, geht in die Küche, stellt den Backofen auf 200 Grad ein, holt den Gemüseauflauf aus dem Kühlschrank, bestreut ihn mit Oregano und schiebt ihn in den Backofen. Aufgewärmter Gemüseauflauf, denkt er, das letzte Mittagessen des Kurt Wiegand.
Er merkt, dass er jetzt mit seinem möglichen Tod nur noch tändelt. Von Todesgedanken fühlt er sich nicht mehr ernsthaft berührt. Sie haben ihn heute schon genug belästigt. Am unangenehmsten war es für ihn am Morgen, direkt beim Aufwachen, als er seinen Arm ausstreckte, aber ins Leere fasste, weil Ingrid nicht neben ihm lag und ihm schlagartig bewusst wurde, dass es sein letzter Morgen werden könnte. Todesgedanken nisteten sich bei ihm immer wieder von Neuem ein und versetzten ihn in eine bislang unbekannte Gefühlslage. Eine Art Abschiedsstimmung, die er völlig überzogen fand, die ihn aber trotzdem beeinflusste. Vieles nahm er intensiver als sonst wahr und schien ihm von einer eigenartigen Wichtigkeit zu sein. Sogar das Schnüren seiner Sportschuhe wurde für ihn zu einer außergewöhnlichen Handlung. Erst als er mit dem Training begann und auf dem 5000-Meter-Lauf sich körperlich forderte, änderte sich seine Stimmung, und er wurde gelöster. Er weiß jetzt, wie wichtig das heutige Körpertraining für ihn gewesen ist. Der Lauf, die Arbeit an der Kraftmaschine, die Hantelübungen und die Gymnastik haben ihn von verqueren Anwandlungen wegbewegt. Für seinen Sprung fühlt er sich körperlich und seelisch gut eingestellt. Er zweifelt nicht mehr daran, dass sein Entschluss richtig war, den Tag bis zu seinem Sprung alleine zu verbringen.
Читать дальше