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Kapitalmarktrechtlich relevant sind darüber hinaus die strafrechtlicheVorschrift des § 264a StGB (Kapitalanlagebetrug), die auch als Schutzgesetz iS des § 823 Abs. 2 BGB angesehen wird[46], und zahlreiche weitere strafrechtliche Regelungen[47]. Diese ergänzen teilweise die speziellen Strafrechtsnormen der Kapitalmarktgesetze. Für das Kapitalmarktrecht spielen auch einige Regelungen des BGBeine Rolle, so etwa die kaufrechtlichen Vorschriften oder die Bestimmungen hinsichtlich der Übertragung und der Funktion von Wertpapieren (zB §§ 929 ff BGB). Zudem ergeben sich immer wieder Fragen, die das Internationale Privatrecht betreffen[48].
2. Europarechtliche Regelungen
a) Richtlinien und Verordnungen zum Kapitalmarktrecht
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Das europäische Recht war und ist der Motor des deutschen Kapitalmarktrechts. Mehr als 80 % der kapitalmarktrechtlichen nationalen Vorschriften basieren inzwischen auf europäischer Gesetzgebung[49]. So beruhen zB ein wesentlicher Teil des BörsG sowie das Kapitalanlagegesetzbuch (KAGB) auf EU-Richtlinien. Die EU-Richtlinien und EU-Verordnungen gelten gemäß dem sog. Lamfalussy-Verfahren als sog. Level 1-Maßnahmen.
⇒ Definition:
Das Lamfalussy-Verfahrenist ein Verfahren zur Beschleunigung des europäischen Gesetzgebungsprozesses im Rahmen der Finanzdienstleistungen (Maßnahmen auf Level 1, 2, 3).
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Teilweise werden die (in nationales Recht umzusetzenden) Richtlinien bzw die Verordnungen durch EU-Durchführungsrichtlinien, die ebenfalls in nationales Recht umzusetzen sind, oder durch EU-Durchführungsverordnungen (als sog. Level 2-Maßnahmen) ergänzt. Die Verwaltungsauffassungen der ESMA wiederum sind als sog. Level 3zu berücksichtigen, wobei diese – wie die BaFin-Verlautbarungen – zwar die Verwaltung, aber nicht die Gerichte binden.
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Hintergrundder europäischen Richtlinien zum Kapitalmarktrecht sind insbesondere die Herstellung der Kapitalverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit im (Kapital-)Binnenmarkt sowie der Schutz der Anleger durch hinreichende Information. Sahen die Richtlinien lange Zeit ausschließlich eine bloße Mindestharmonisierung vor, so sind sie nun zunehmend auf Vollharmonisierungangelegt[50] (zB die Transparenzrichtlinie 2013[51]). Hier bleibt dem nationalen Gesetzgeber kaum Gestaltungsspielraum, sodass im Wesentlichen eine „Eins-zu-Eins“-Umsetzung zu erfolgen hat[52].
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Auch wenn es bislang keinen einheitlichen europäischen Kapitalmarkt gibt[53], so ist in den Richtlinien doch regelmäßig vorgesehen, dass die Zulassung eines Kapitalmarktprodukts oder die Erlaubnis einer kapitalmarktbezogenen Tätigkeit durch die Behörde des Herkunftsstaats in allen anderen EU-Mitgliedstaaten anerkannt wird ( Europäischer Pass, single licence-Prinzip). Darüber hinaus besteht das Ziel eines single rulebook des Europäischen Kapitalmarktrechts[54] und der Schaffung einer europäischen Kapitalmarktunion[55].
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Eine Europäisierung des Kapitalmarktrechts erfolgt zunehmend durch unmittelbar im nationalen Recht geltende EU-Verordnungen[56]. So wurden inzwischen etwa wesentliche Teile des umgesetzten WpHG in die MarktmissbrauchsVO (MAR) „transferiert“[57]. Insofern wird inzwischen von vielen die MAR (und nicht mehr das WpHG) als „Grundgesetz“des Kapitalmarktrechts gesehen[58]. Ebenso verhält es sich zB mit dem richtlinienbasierten WpPG, das nun weitgehend durch die EU-ProspektVO abgelöst ist[59]. Die nationalen Gesetze umfassen daher in vielen Teilen lediglich noch die Verordnung ergänzende Verwaltungsregelungen.
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Schaubild: Rechtsgrundlagen im Kapitalmarktrecht
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Bei der Auslegung nationaler Regelungen ist zwischen angeglichenen Normen und originär deutschen Regelungen zu unterscheiden. Handelt es sich bei einer kapitalmarktrechtlichen Vorschrift um originär deutsches Recht (zB in den §§ 85, 99 ff WpHG), so finden die herkömmlichen Auslegungsregeln Anwendung, dh es ist auf den Wortlaut, die Gesetzessystematik sowie den Sinn und Zweck der Regelung abzustellen. Daneben besitzt die am Willen des Gesetzgebers orientierte historische Auslegung Bedeutung[60].
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Bei angeglichenem deutschen Recht sind die dort enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe richtlinienkonformauszulegen[61]. Das bedeutet, dass die Gerichte das nationale Recht soweit wie möglich im Lichte des Wortlauts der Richtlinie und des Richtlinienzwecks auszulegen haben[62]. Ausgelegt wird auf der Grundlage der Überlegung, dass der Gesetzgeber dem Richtlinienzweck voll gerecht werden und nicht hinter den Anforderungen zurückbleiben wollte[63]. Allerdings zwingt das EU-Recht nicht zu einer Auslegung der nationalen Regelungen contra legem[64]. Nach der Rechtsprechung des BVerfG müssen die Gerichte der Auslegung einer Richtlinie durch den EuGH im Vorlageverfahren (Art. 267 AEUV) folgen[65].
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Umstrittenist, ob der richtlinienkonformen Auslegung Vorrangvor den Auslegungsmethoden des nationalen Rechts zukommt[66] oder ob sie als eine weitere Auslegungsmethode neben den herkömmlichen Methoden steht[67] bzw die bisherigen Auslegungsformen partiell überlagert[68]. Teilweise wird im Schrifttum davon ausgegangen, dass trotz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts und trotz der Verpflichtung zur Gemeinschaftstreue ein Residuum für die nationalen Auslegungsmethoden verbleibt. Diese sollen hauptsächlich der Fortbildung transformierten Rechts Grenzen setzen[69]. Die hM sieht im möglichen Wortsinn eine Grenze richtlinienkonformer Auslegung, die nicht überschritten werden kann[70].
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Zunehmend deutlich wird, dass eine Auslegung der Verordnungen (Level 1)Schwierigkeiten aufwerfen kann[71]. EU-Verordnungen, wie etwa die MAR, sind nach einhelliger Auffassung aus sich selbst heraus, dh autonom auszulegen[72]. Das hat „unter Berücksichtigung des Kontexts der Bestimmungen und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels zu erfolgen[73]. So fragt sich etwa, welche Entwurfsfassung bei der Ermittlung des gesetzgeberischen Willens heranzuziehen ist[74]. Immer häufiger macht der EU-Gesetzgeber des Weiteren von einem Verweis auf sog. Delegierte RechtsakteGebrauch, bei denen der Kommission die Befugnis übertragen wird, bestimmte Punkte, insbesondere technische Einzelheiten, zu regeln (Level 2)[75].
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Bei der Auslegung sind auch die Empfehlungen, Hinweise und Leitlinien der ESMA[76] zu berücksichtigen (Level 3). Auch wenn diese rechtlich unverbindlich sind, haben sie faktisch großen Einfluss, da sich die ESMA iS einer Selbstbindung der Verwaltung grds nach diesen richtet[77], ihnen also norminterpretierender Charakter zukommt[78]. Die Aufsichtsbehörden der Mitgliedstaaten (in Deutschland die BaFin) haben innerhalb einer Frist mitzuteilen, ob sie der jeweiligen Auffassung folgen[79]. Insofern haben die zuständigen Behörden und ggf die Marktteilnehmer „alle erforderlichen Anstrengungen“ zu unternehmen, um den Leitlinien und Empfehlungen nachzukommen[80]. Außerdem sind im Einzelfall die Questions and Answers (Q&A)der ESMA[81] zu berücksichtigen, die eine einheitliche und konsistente Aufsichtspraxis sicherstellen sollen[82]. Das gilt auch für die FAQ (Häufig gestellte Fragen) der BaFin.
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