Das Darbringen von Verbeugungen war in ganz Tibet eine sehr bekannte Praxis. Der große Lama Je Tsongkhapa betonte die Wichtigkeit dieser Praxis und machte während eines Retreats mit verschiedenen seiner Hauptschüler dreieinhalb Millionen ganze Verbeugungen. Ein anderer großer tibetischer Lehrer, Jhampa Rinpoche - der als eine Manifestation Buddha Maitreyas galt - behauptete, daß er das äußere Ansammeln von Verdiensten auf lediglich zwei Übungen pro Tag beschränke: er würde einhundert Wasserschalen darbringen und einhundert Verbeugungen machen. Auch im hohen Alter fuhr er mit dieser Praxis fort. Er war sehr groß und konnte deshalb sehr viele Verdienste mit dieser Praxis ansammeln, weil er sehr viel Boden mit seinem Körper bedecken konnte. Eines Tages rief er aus: «Wie wundervoll wäre es, wenn ich noch größer wäre, dann könnte ich noch mehr Verdienste ansammeln!»
Verbeugungen waren in Tibet auch unter den Laien eine sehr beliebte Praxis, und viele Menschen nahmen große Mühen auf sich, um sie darbringen zu können. Es kam ziemlich häufig vor, daß Leute den gesamten Weg um die Hauptstadt Lhasa herum mit Verbeugungen zurücklegten. Von einigen Leuten wußte man außerdem, daß sie die gesamte Strecke von ihrer Heimat im Osten Tibets bis zum heiligen Berg Kailash im Westen mit Verbeugungen zurückgelegt hatten. Das ist eine Reise, für die man zu Fuß normalerweise sechs Monate benötigt.
Auch wenn Verbeugungen, wie sie eben beschrieben wurden, eine körperliche Praxis sind, hängt der wirkliche Wert wie bei allen Dharma-Übungen vor allem von unserer Geisteshaltung ab. Falls wir während dieser Praxis unseren Körper in zahllosen Manifestationen visualisieren, die alle vor zahllosen Buddhas und Bodhisattvas Verbeugungen machen, dann wird der Nutzen so groß sein, wie unsere Visualisierung weit ist.
In seinem Leitfaden zählt Shantideva die Praxis der Verbeugungen zu den Grundlagen des Bodhichittas. Es gibt drei Grundlagen, auf denen die Entwicklung des Erleuchtungsgeistes basiert: der Mahayana-Dharma, der die Techniken und den Nutzen der Entwicklung von Bodhichitta beschreibt; der Spirituelle Meister des Mahayana, der uns genaue Anweisungen gibt, und als letztes der eigentliche Ort, an dem Bodhichitta entwickelt wird. Das Erzeugen von Bodhichitta ist so kostbar, daß selbst der Ort, an dem er erzeugt wird, der Verehrung würdig ist. In Indien gibt es viele Pilgerstätten, die die Stellen kennzeichnen, an denen berühmte Meditierende spirituelle Realisationen erlangten. Insbesondere ist Bodh-Gaya, wo Buddha Shakyamuni das Erlangen der vollen Erleuchtung zeigte, als ein sehr glückverheißender Ort bekannt, um Verbeugungen zu machen. Ähnliches gilt für seinen Geburtsort (Lumbini), den Ort der ersten Drehung des Dharma-Rades (Sarnath) und den Ort, an dem er verstarb (Kushinagar). Es sind alles Orte, die von Pilgern aufgesucht werden, um insbesondere Verbeugungen zu machen.
Die dritte vorbereitende Praxis, um Negativität zu reinigen und Verdienste anzusammeln, ist, den Geist auf die richtige und endgültige Quelle der Zuflucht zu richten. Wie Shantideva sagt:
Von jetzt an bis ich die Essenz der großen Erleuchtung erlange, werde ich Zuflucht nehmen zu den Buddhas, zum Dharma und zur erhabenen Versammlung der Höheren Bodhisattvas. [26]
Die Zufluchtnahme wird in fünf Abschnitten erklärt:
1. Die Ursachen der Zufluchtnahme
2. Die Zufluchtsobjekte
3. Das Maß der Zufluchtnahme
4. Die Verpflichtungen der Zufluchtnahme
5. Der Nutzen der Zufluchtnahme
Wenn uns die Ursachen der Zufluchtnahme unbekannt sind, dann werden wir keine Motivation haben, diese Praxis zu beginnen. Und wenn wir nicht wissen, welches die eigentlichen Zufluchtsobjekte sind, an wen sollen wir uns dann wenden? Wenn wir das Maß für die Zufluchtnahme nicht kennen, dann werden wir nicht wissen, wie wir diese Praxis vollenden können; und wenn wir die Verpflichtungen der Zufluchtnahme nicht kennen, werden wir den Zweck dieser Praxis nicht erfüllen können. Wenn wir schließlich nicht wissen, welchen Nutzen die Zufluchtnahme hat, berauben wir uns selbst der Inspiration, die notwendig ist, um die Praxis aufrichtig und regelmäßig auszuüben.
DIE URSACHEN DER ZUFLUCHTNAHME
Die Zufluchtnahme ist eine Hauptgrundlage des buddhistischen Pfades. Sie kennzeichnet unseren Entschluß, uns vom bisherigen endlosen Kreislauf der Verwirrung und Unzufriedenheit zu lösen, der unser bisheriges Leben bestimmt hat, und uns einem vernünftigeren und tugendhafteren Leben zuzuwenden. Wie zuvor erwähnt wurde, ist unsere vergangene Ansammlung negativer Handlungen durch Körper, Rede und Geist sowohl dafür verantwortlich, daß wir Tag für Tag Verwirrung und Unglück erfahren, wie auch für unsere Schwierigkeiten, Realisationen auf dem spirituellen Pfad zu erlangen. Wenn dieses unkontrollierte Verhalten ungehindert weitergeht, wird es uns künftig in noch weitaus leid- und qualvollere Zustände führen. Somit gibt es zwei voneinander abhängige Gründe, Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha zu nehmen. Als erstes müssen wir eine tiefempfundene Furcht vor den elenden Zuständen samsarischer Existenz haben, in die uns das unkontrollierte Verhalten unseres Körpers, unserer Rede und unseres Geistes hineintreibt. Gemäß der buddhistischen Kosmologie wird diese Furcht als eine intensive Abneigung gegen die drei niederen Existenzbereiche verstanden, oder mehr noch, als ein Gefühl der Abscheu vor der unbefriedigenden Natur aller Existenzbereiche, die durch Unwissenheit bedingt sind. Zusätzlich zu dieser Furcht müssen wir unerschütterliches Vertrauen in die Drei Juwelen haben und dabei genau verstehen, wie sie die Macht haben, uns vor allen Formen des Leidens zu beschützen. Indem wir unsere Überzeugung auf Begründungen, korrekte Autorität und, als wichtigstes, auf unsere eigene Erfahrung stützen, wenden wir uns den Drei Juwelen der Zuflucht mit dem Gedanken zu, daß nur sie uns den Pfad zeigen können, der uns von Angst und Unzufriedenheit weg- und zu innerem Frieden hinführt.
Die buddhistischen Unterweisungen beschreiben drei aufeinander aufbauende Stufen der spirituellen Praxis, und die beiden Gründe für die Zufluchtnahme variieren gemäß der Stufe, auf der wir uns befinden. Eine Person anfänglicher Ausrichtung sieht klar, wie ihr Geist von heftigen Verblendungen wie Haß, Neid, Gier und dergleichen verunreinigt ist. Sie fürchtet, daß dieser ungezähmte Geist sie ohne angemessene Schulung dem großen Leiden der drei niederen Bereiche aussetzen wird: den Leiden der Höllenbereiche und der Bereiche der Hungrigen Geister und der Tiere, die das Ergebnis sehr nichttugendhafter Handlungen von Körper, Rede und Geist ist. Eine Person anfänglicher Ausrichtung entwickelt das Vertrauen und die Überzeugung in die Macht der Drei Juwelen, Schutz vor diesen Schrecken zu gewähren.
Wenn man zur mittleren Ausrichtung fortschreitet, sieht man, daß die gesamte samsarische Existenz - die höchsten Bereiche genauso wie die niedrigsten - von Unzufriedenheit und Leiden durchdrungen ist. Des Wanderns durch diesen endlosen Existenzkreislauf überdrüssig, wendet sich eine Person mittlerer Ausrichtung den Drei Juwelen zu auf der Suche nach einer Methode, die die vollständige Befreiung von jeder Art bedingter Existenz ermöglicht.
Auf der höchsten Motivationsebene ist der spirituell Praktizierende durch Großes Mitgefühl motiviert. Er geht über die eigenen selbstsüchtigen Belange hinaus und erkennt, daß alle anderen Wesen genauso in der Dunkelheit der Unwissenheit umherwandern und dabei fortwährend Ursachen für immer neue Leiden schaffen. Mit dem innigen Wunsch, diesen Lebewesen zu helfen, die er alle als seine Mütter aus früheren Leben erkennt, wendet er sich mit der Überzeugung den Drei Juwelen zu, daß nur sie ihn zur vollen Erleuchtung führen können - dem vollendeten Zustand, in dem es möglich ist, allen Lebewesen in höchstem Maße von Nutzen zu sein.
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