Allein der Anblick der Handlanger des Herrn des Todes wird großen Schrecken und Schmerzensschreie auslösen. Mit weit aufgerissenen Augen werde ich in allen vier Richtungen Ausschau halten nach jemandem, der mir Zuflucht gibt. Aber ohne irgendwo eine Quelle der Zuflucht zu entdecken, werde ich in Schwermut und Verzweiflung gehüllt werden. Was soll ich tun, völlig schutzlos und unerträglichem Leiden ausgesetzt? Jetzt, von genau diesem Moment an, muß ich alle Ursachen aufgeben, die zu solch höllischen Erfahrungen führen können. [45-46]
Ohne das starke Gefühl von Bedauern, das Shantideva oben so eindrucksvoll illustrierte, werden wir nicht fähig sein, unsere Nichttugend zu reinigen. Im allgemeinen fühlen wir jedoch nicht das geringste Bedauern für unsere vergangenen schädlichen Handlungen. Warum? Weil wir nicht vollständig erkennen, daß die Früchte dieser Handlungen nichts als Leiden sein werden. Solange wir gegenüber der kausalen Beziehung zwischen verblendeten, unheilsamen Handlungen und den daraus resultierenden Erfahrungen von Leiden blind bleiben, werden wir unseren fehlgeleiteten Lebensstil weder aufgeben noch bedauern. Wir werden nicht nur unfähig sein, die Wirkungen vergangener Negativität zu reinigen, sondern werden damit fortfahren, die Ursachen für noch weiteres zukünftiges Leiden zu schaffen.
Eine Haltung des Bedauerns kann nur entstehen, wenn wir die Verbindung zwischen dem Schaden, den wir erzeugen, und dem Schaden, den wir erhalten, erkennen. Wichtig ist jedoch, nicht mißzuverstehen, was es bedeutet, unsere ungeschickten Handlungen zu bedauern. Wir sollten das Leiden, das wir erfahren, nicht als eine von außen kommende Bestrafung für unsere Sünden betrachten. Wir brauchen uns auch nicht schuldig zu fühlen, weil wir meinen, wir hätten irgendeine Autorität oder Macht beleidigt, die nur darauf wartet, sich an uns zu rächen. Wahres Bedauern hat mit solch äußerlichen Haltungen nichts zu tun.
Der Unterschied zwischen einer angemessenen und einer übertriebenen Haltung kann in diesem Zusammenhang folgendermaßen illustriert werden: Die Eltern eines Jungen, die die Gefahren des Feuers kennen, haben ihm verboten, mit Streichhölzern zu spielen. Er tut es trotzdem und verbrennt sich die Finger. Die richtige und nützlichste Reaktion wäre, wenn das Kind seine Unvorsichtigkeit bedauert und aus seiner schmerzhaften Erfahrung lernt, ähnliche Gefahren in der Zukunft zu vermeiden. Eine unverhältnismäßige Reaktion wäre es, wenn das Kind glauben würde, daß es vom Streichholz absichtlich für den Ungehorsam gegenüber seinen Eltern bestraft worden ist. So eine abergläubische Reaktion verwirrt die Situation nur und bringt irrelevante Überlegungen wie z. B. Schuld ins Spiel, die in Wirklichkeit die Fähigkeit des Kindes zu einem intelligenten Umgang mit zukünftigen Gefahrensituationen eher vermindern als verbessern.
Zurück zur richtigen Anwendung der Gegenkräfte. Wir sollten versuchen, eine Haltung des Bedauerns gegenüber unseren ungeschickten, nichttugendhaften Handlungen zu entwickeln, die nicht auf Schuld basiert, sondern eher auf dem klaren Verständnis, daß schädliche Ursachen schädliche Resultate bringen. Die erleuchteten Wesen haben bestimmte Handlungen gerade wegen ihrer schädlichen Wirkungen nichttugendhaft genannt. Wenn wir erkennen, daß wir diese potentiell leidverursachenden Handlungen begingen und noch immer begehen, ist aufrichtiges Bedauern eine völlig natürliche und angemessene Reaktion.
Wie kommt es, daß aus schädlichen Handlungen schädliche Folgen entstehen? Durch die Kraft einer Prägung, die in unserem Geist hinterlassen wird, entsteht das Potential für zukünftiges Leiden. Beispielsweise pflanzt eine Person, die einen Mord begeht, eine sehr starke negative Prägung in ihren Geist, und diese Prägung oder dieser Samen trägt das Potential in sich, den Geist in einen Zustand extremen Leidens zu führen. Solange die Prägung dieser nichttugendhaften Handlung nicht gereinigt ist, wird dieser latente Samen im Geist eingepflanzt bleiben. Seine Kraft schläft, ist aber unvermindert. Wenn die entsprechenden Umstände schließlich zusammentreffen, wird die potentielle Macht dieser Prägungen aktiviert, und der Samen wird als eine Erfahrung extremer Leiden reifen, beispielsweise als Wiedergeburt in einem karmisch erschaffenen Höllenbereich.
Die Situation entspricht der eines dürren Stücks Land, in das vor langer Zeit Samen gesetzt wurden. So lange diese Samen nicht irgendwie zerstört werden, werden sie ihr Potential zum Wachsen bewahren. Sollte der Boden eines Tages genügend bewässert werden, werden diese lange vergessenen Samen zu sprießen beginnen. In gleicher Weise setzen unsere karmischen Handlungen Samen in das Feld unseres Bewußtseins, und wenn wir den entsprechenden Umständen begegnen, werden diese Samen sprießen und ihre karmischen Früchte tragen.
Durch das Begehen negativer Handlungen und das Vernachlässigen der Reinigung säen wir in unserem Geist unzählige Samen von ähnlich negativem Potential. Das Reifen solcher Samen ist nicht auf die Erfahrung einer Wiedergeburt in den niederen Bereichen begrenzt. Beispielsweise können wir, weil wir in früheren Leben anderen Lebewesen Schaden zugefügt haben, in diesem Leben viele Krankheiten erfahren. Ebenso kann gegenwärtiges geistiges Leiden und Unglück ein Ergebnis davon sein, andere in der Vergangenheit gestört zu haben. Genauso ist Armut das karmische Ergebnis von Geiz, und ein mißgebildeter oder häßlicher Körper ist die Folge von Wut. Ferner brauchen wir nicht auf zukünftige Leben zu warten, um die Resultate der jetzt begangenen Nichttugend zu erfahren. Wir alle wissen, daß uns Ärger und Gier sofort Unannehmlichkeiten und Unglück bringen können.
Nichttugendhafte Handlungen wie Diebstahl, Verleumdung und Böswilligkeit werden dadurch begangen, daß andere Wesen als Bezugsobjekte oder Opfer dienen. Es gibt jedoch bestimmte geistige Handlungen, die nicht nach außen gerichtet sind, sondern denjenigen, der sie ausübt, direkt betreffen. Solche geistigen Handlungen fallen in die Gruppe, die als Festhalten an falschen und irregeleiteten Sichtweisen bekannt ist, und diese stellen die schwersten und schädlichsten aller negativen Handlungen dar. Wenn wir zum Beispiel an der Meinung festhalten, daß es keine wirksame Zuflucht vor weltlichem Leiden gibt, oder wenn wir Vertrauen in ein unangemessenes Zufluchtsobjekt entwickeln - wie unsere eigenen Verblendungen -‚ oder wenn wir hartnäckig verneinen, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Handlungen und ihren Wirkungen besteht, wird unser Geist fehlgeleitet, und wir hindern uns selbst daran, eine korrekte Sicht der Wirklichkeit zu erlangen. Als Ergebnis wird sich unsere Unwissenheit vergrößern und uns dazu verleiten, immer mehr schädliche Handlungen mit Körper, Rede und Geist zu begehen. Wenn wir uns an diese abergläubischen, wahrheitsverneinenden Sichtweisen klammern, können sehr machtvolle negative Samen in unserem Geist gesät werden. Eine aus solchen Samen entstehende mögliche Auswirkung ist, daß wir große Schwierigkeiten erfahren, wenn wir später versuchen, Dharma zu studieren oder zu meditieren.
Manche Leute haben überhaupt keine Begabung für den Dharma; sie lehnen engstirnig alles ab, was einen spirituellen Geschmack hat. Auch ein solches Verhalten ist das Resultat des Festhaltens an falschen Sichtweisen in vorangegangenen Leben. Außerdem gibt es bestimmte Länder, in die spirituelle Unterweisungen niemals vordringen. Solch eine verbreitete Abwesenheit des Dharmas ist das kollektive Ergebnis vergangener nichttugendhafter Handlungen der Menschen, die jetzt in diesem Land wiedergeboren wurden. Auf diese Weise sind Mißgeschick und Unglück das Ergebnis negativer Neigungen des Geistes, sei es als Erfahrung von Einzelnen oder von Gruppen.
Alle nichttugendhaften Handlungen, ob sie nach innen oder nach außen gerichtet sind, verunreinigen unseren Geist. Wenn wir also Realisationen bezüglich irgendeines Aspektes des Dharmas entwickeln wollen, ist es notwendig, unsere Nichttugend so weit wie möglich zu reinigen. Bevor ein schmutziger Topf als Gefäß für ein köstliches Getränk benutzt werden kann, muß er gründlich gereinigt werden; andernfalls wird das Getränk verunreinigt und damit ungenießbar. Oder anders gesagt, wenn wir unseren Geist nicht von seinen Verunreinigungen befreien, wird der sonnengleiche Bodhichitta nicht in ihm aufgehen können. Wenn es uns andererseits gelingt, unsere Nichttugend zu reinigen und einen großen Schatz an Verdiensten anzusammeln, dann können wir tiefe Realisationen erlangen, sogar von einem solch schwierigen Objekt wie der tiefgründigen Sicht der endgültigen Wirklichkeit (dem Thema des neunten Kapitels), auch ohne ausführliche Dharma-Unterweisungen erhalten zu müssen.
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