Damit endet das erste Kapitel «Der Nutzen von Bodhichitta» des Textes Sinnvoll zu betrachten, der ein Kommentar ist zu Shantidevas Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattvas.
2. Kapitel
Das Aufdecken von Negativität
Im ersten Kapitel seines Leitfadens behandelte Shantideva den Nutzen, den Geist des Bodhichittas zu entwickeln. Im zweiten Kapitel zeigt er uns, wie wir Hindernisse beseitigen können, die uns normalerweise davon abhalten würden, diese erleuchtete Absicht zu entwickeln. Der Kommentar ist daher weiter wie folgt unterteilt:
WIE WIR UNS IN DEN SECHS VOLLKOMMENHEITEN SCHULEN, NACHDEM WIR BODHICHITTA ENTWICKELT HABEN
1. Bodhichitta bewahren
2. Die Schulung in den Sechs Vollkommenheiten
Dieser Abschnitt enthält zwei Teile, die dem zweiten und dritten Kapitel dieses Kommentars entsprechen:
1. Wie man Hindernisse beseitigt und Negativität reinigt
2. Wie man den eigentlichen Bodhichitta annimmt und bewahrt
WIE MAN HINDERNISSE BESEITIGT UND NEGATIVITÄT REINIGT
Wie zuvor erwähnt, ist unsere Ansammlung von Negativität oder Nichttugend das Haupthindernis für die Entwicklung des Erleuchtungsgeistes. Wenn wir tugendhafte Geisteshaltungen wie Bodhichitta entwickeln wollen, müssen wir diese Negativität reinigen und sie durch positive Energie oder Verdienste ersetzen. Dieser zweiteilige Prozeß des Ansammelns von Verdiensten und der Reinigung unserer Nichttugend oder Negativität erfolgt, indem wir die folgenden vorbereitenden Übungen und das Bekenntnis durchführen:
1. Die vorbereitenden Übungen
2. Das Bekenntnis der Nichttugend
DIE VORBEREITENDEN ÜBUNGEN
Dies hat drei Teile:
1. Darbringungen
2. Verbeugungen
3. Zuflucht nehmen
Die erste der vorbereitenden Übungen sind Darbringungen. Diese können gemäß Shantidevas Erklärung wie folgt unterteilt werden:
1. Die Notwendigkeit von Darbringungen und das Erkennen ihrer Objekte
2. Die eigentliche Darbringung
DIE NOTWENDIGKEIT VON DARBRINGUNGEN UND DAS ERKENNEN IHRER OBJEKTE
In diesem zweiten Kapitel übernimmt Shantideva die Rolle von jemandem, der bemüht ist, sich von angesammelter Nichttugend zu reinigen. Er sieht die Notwendigkeit ein, die vorbereitenden Übungen auszuführen und bekennt es offen, wie folgt:
Um diesen kostbaren Bodhichitta, die Quelle des Glücks für alle Lebewesen, zu bewahren und zu vollenden, werde ich jetzt allen Objekten der Hingabe Gaben darbringen: allen Tathagatas (denjenigen, die so dahingegangen sind, d.h. den Buddhas), dem Dharma-Juwel und allen Söhnen der Buddhas wie dem jugendlichen Manjushri, Avalokiteshvara und anderen, die Ozeane hervorragender Eigenschaften besitzen. [1]
DIE EIGENTLICHE DARBRINGUNG
Shantideva beginnt jetzt eine ausführliche Auflistung der verschiedenen Arten von Darbringungen, die den drei erhabenen Objekten - Buddha, Dharma und Sangha dargebracht werden können. Es gibt drei Kategorien von Darbringungen:
1. Darbringungen, die niemandem gehören
2. Der eigene Körper
3. Geistig umgewandelte Darbringungen
DARBRINGUNGEN, DIE NIEMANDEM GEHÖREN
Ich bringe Euch folgende Gaben dar: die schönsten Blumen, die es gibt, Früchte, Heilpflanzen, zahlreiche Juwelen und reines, erfrischendes Wasser, Berge übersät mit Juwelen, schöne Waldhaine, stille und freudevolle Plätze, himmlische Bäume mit den schönsten Blüten und Bäume, deren Äste sich unter dem Gewicht reifer Früchte beugen.
Erlesene Düfte aus himmlischen Bereichen, Weihrauch, wunscherfüllende Bäume, Juwelenbäume, ungesäte Ernten und jeder Schmuck, der einer Darbringung würdig ist. Seen und Teiche, die mit herrlichen Lotosblüten geschmückt sind und wo der schöne Klang der Gänse ertönt.
Aus der Tiefe meines Herzens bringe ich den erhabenen Buddhas und ihren Söhnen aus den grenzenlosen Sphären des Raumes alle diese Gaben dar, die niemandem gehören, zusammen mit allem, was der Darbringung würdig ist. O Ihr Mitfühlenden, denkt voller Güte an mich und nehmt meine Gaben an. Ich habe wenig Verdienst und keine anderen Geschenke zu geben, die schön und kostbar sind. O Beschützer, die Ihr Euch um alle Wesen sorgt, nehmt durch Eure Kraft diese Gaben um meinetwillen an. [2-7]
Unter den seltenen und schönen Dingen, die hier dargebracht werden, erwähnt Shantideva einige wie die kostbaren Berge und die wunscherfüllenden Bäume, die vielen von uns sicherlich höchst ungewöhnlich erscheinen. Wo können diese kostbaren Berge gefunden werden? Was ist ein wunscherfüllender Baum und wo befindet er sich? Um all dies verstehen zu können, müssen wir etwas über die buddhistische Kosmologie erfahren. Dieses System, das Universum zu betrachten, unterscheidet sich stark von der heutigen wissenschaftlichen Theorie, und vieles davon wäre schwierig zu akzeptieren, wenn wir es zu wörtlich oder zu konkret verstehen würden. Wenn wir aber den Zweck dieser Kosmologie bedenken - nämlich daß sie es uns ermöglicht, das ganze Universum als eine Darbringung an die Erleuchteten zu betrachten -‚ dann wird die anfängliche Befremdung über dieses System schnell verschwinden.
Buddha lehrte, daß es zahllose Weltsysteme im Universum gibt. Einige davon sind wie unser eigenes, während andere sehr verschieden sind. Unser eigenes Weltsystem oder lokales Universum besteht aus vier «Kontinenten», die in den Haupthimmelsrichtungen angeordnet sind. Wir leben auf dem südlichen Kontinent. In der Mitte dieses Universums steht ein riesiger Berg mit vier Seiten. Es ist der Berg Meru. Jede Seite dieses zentralen Berges besteht aus einer jeweils anderen kostbaren Substanz. Die Farbe des Himmels über jedem Kontinent wird durch das Licht bestimmt, das vom Berg Meru reflektiert wird. Da die südliche Seite des Berges aus Lapislazuli besteht, erscheint der Himmel über dem südlichen Kontinent blau. Die östliche Seite des Berges Meru besteht aus Kristall und reflektiert weißes Licht auf den östlichen Kontinent; die westliche Seite ist rot wie ein Rubin, und die nördliche Seite ist gelb wie Gold.
Die Mineralien und die Vegetation auf jedem dieser Kontinente sind verschieden. Außerdem besitzt jeder dieser Kontinente als Hauptmerkmal einen besonderen Schatz. Diese vier Schätze, die aufgrund ihrer Pracht den Buddhas dargebracht werden, sind: ein kostbarer Berg vom östlichen Kontinent, ein wunscherfüllender Baum von unserem eigenen südlichen Kontinent, eine wunscherfüllende Kuh vom westlichen Kontinent und die Ernte von Feldern, die man nicht bebauen muß, vom nördlichen Kontinent. Diese Geschenke symbolisieren alles Kostbare und Schöne des Universums, und können in einer phantasievollen Visualisierung zusammen mit der Sonne, dem Mond und anderen besonderen Dingen als sogenanntes Mandala an Buddha, Dharma und Sangha dargebracht werden. Wenn eine visualisierte Darbringung dieser Art ernsthaft ausgeführt wird, kann sie kraft ihrer Größe und erhabenen Qualität eine äußerst positive Wirkung auf unseren Geist haben und somit viele Verdienste erschaffen.
Den Drei Juwelen - Buddha, Dharma und Sangha - Gaben darzubringen ist im wesentlichen eine geistige Tätigkeit. Tatsächliche materielle Gaben sind nicht erforderlich, und deshalb kann sogar der ärmste Mensch die prachtvollsten Gaben darbringen, vorausgesetzt, die Motivation ist rein und die Visualisierung ausgedehnt. Diese Praxis dient dazu, die Beschränktheit unserer geizigen Geisteshaltungen zu überwinden, und ihr Nutzen kann wirklich enorm sein. Es gibt eine Geschichte von einem kleinen Kind, das den starken Wunsch hatte, dem Buddha seiner Zeit eine kostbare Gabe darzubringen. Weil es arm war und sich nichts leisten konnte, füllte es eine Schale mit Staub, hielt sie empor und stellte sich vor, daß sie von Gold erstrahlte. Die Stärke und Reinheit seiner Motivation waren so kraftvoll, daß es riesige Verdienste im Geist ansammelte. Dieses Kind wurde später als der große buddhistische König und Wohltäter Ashoka wiedergeboren. Während seiner Herrschaft trug dieser König viel dazu bei, die buddhistische Lehre in Indien und Sri Lanka zu etablieren. An einem einzigen Tag veranlaßte er den Bau von einer Million buddhistischer Monumente. Einige von ihnen sind noch heute zu sehen.
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