[21] Shantideva verwendet dieses Beispiel großer Verdienste, die aus dem bloßen Wunsch entstehen, andere von ihren Kopfschmerzen zu befreien, als Vergleichsstandard. Wenn das Verdienst aus einer begrenzten Absicht wie dieser schon so groß ist, [22] wie unermeßlich müssen da die Verdienste aus der reinen Absicht eines Bodhisattvas sein? Die aus der Bodhichitta-Motivation entstandene Absicht eines Bodhisattvas ist es, alle fühlenden Wesen von allem Leiden zu befreien und sie zum höchsten Zustand der Erleuchtung zu führen. Ein Bodhisattva arbeitet nicht nur für das vorübergehende Glück der fühlenden Wesen, sondern auch dafür, sie zum endgültigen Glück der Buddhaschaft zu führen.
[23] Haben unsere Eltern uns gegenüber die gleichen guten Absichten wie ein Bodhisattva? Oder haben die großen Götter wie Indra und Brahma oder die alten Weisen eine solch wohlwollende Absicht? Nein. Es ist wahr, daß unsere gütigen Eltern unser vorübergehendes Leiden beseitigen und uns viel Glück geben möchten, aber es kommt ihnen nicht in den Sinn, uns den erhabenen freudvollen Zustand der vollen Erleuchtung - die vollständige Beendigung unserer gesamten Leiden - zu wünschen.
Obwohl wir von Selbst-Wertschätzung erfüllt sind, streben gewöhnliche Wesen wie wir im allgemeinen nur das vorübergehende Glück dieses jetzigen Lebens an. Wir haben nicht die Absicht, den höchsten Zustand der Erleuchtung oder Glück in zukünftigen Leben zu erlangen. Wir haben auch nicht die Absicht, uns von den Leiden einer Wiedergeburt in der Hölle oder von Samsara insgesamt zu befreien. [24] Wenn die gute Absicht, von allen Leiden befreit zu sein und Erleuchtung zu erlangen, nie für uns selbst entsteht, nicht einmal in unseren Träumen, wie soll sie dann je für andere entstehen können? Wenn wir selbst nicht den Wunsch haben, von Samsara frei zu sein, wie soll dann der Wunsch entstehen, daß andere von Samsara frei sein mögen?
Wenn wir gründlich über die Leiden meditieren, denen wir ständig ausgesetzt sind, können wir den Wunsch entwickeln, von all den unbefriedigenden Zuständen befreit zu werden, aus denen Samsara besteht. Dieser Wunsch nach Befreiung wird Entsagung genannt. Wenn wir über die Leiden der Wesen nachdenken, die in der gleichen Lage sind wie wir - und erkennen, daß alle fühlenden Wesen überall in Samsara leiden - wird der Wunsch entstehen, daß auch sie befreit werden. Das ist die Entwicklung des wahren Mitgefühls und führt zur Entwicklung des Bodhichitta-Wunsches.
[25] Bodhichitta ist die Quelle des Glücks für alle fühlenden Wesen. Er ist das Allheilmittel, das alle Leiden behebt. [26] Wie können wir die unendlichen, unvorstellbaren Verdienste dieses kostbaren, juwelengleichen Geistes ermessen? Gibt es ein Wunder, das man mit der Entstehung des kostbaren Bodhichittas in unserem Geist vergleichen kann?
Einem anderen Wesen zu helfen, ist mit Sicherheit eine großartige Praxis, aber damit unsere gute Absicht rein ist, sollte sie nicht mit Verunreinigungen wie Anhaftung vermischt sein. Nur wenn sie von solchen Verunreinigungen frei ist, werden große Verdienste entstehen. [27] Wenn, wie es heißt, die bloße reine Absicht, einem einzelnen fühlenden Wesen zu helfen, verdienstvoller ist, als zahllosen Buddhas reichliche Gaben darzubringen, muß dann noch über die gute Absicht eines Bodhisattvas gesprochen werden? Denn, wie schon erwähnt wurde, wünscht er (oder sie) mit reiner Bodhichitta-Motivation, alle fühlenden Wesen von ihren Leiden zu befreien und alle zur unveränderlichen Glückseligkeit der unübertroffenen Erleuchtung zu führen.
Um den Umfang der Handlungen eines Bodhisattvas und die Macht der Ergebnisse seiner Motivation zu verstehen, können wir folgendes betrachten: Wenn wir gegenüber einhundert Wesen eine gute Absicht haben, so entstehen einhundert Verdienste. Genauso entstehen eintausend Verdienste, wenn die Absicht auf eintausend Wesen gerichtet ist. Und wenn diese gute Absicht auf zahllose Wesen gerichtet ist, werden auch die Verdienste zahllos sein. Deshalb sind die Früchte, die durch die Bodhichitta-Motivation reifen, grenzenlos. Warum? Weil das Objekt des Bodhichittas die zahllosen fühlenden Wesen des Universums sind.
[28] Man könnte behaupten, daß ein Bodhisattva die Leiden der fühlenden Wesen nicht beseitigen und sie nicht zum Glück führen muß, da sie dies selbst tun werden. Tatsächlich aber wissen gewöhnliche Wesen überhaupt nichts vom karmischen Gesetz von Handlung und Wirkungen. Deshalb eilen sie direkt auf das Leiden zu, obwohl sie alle frei davon sein wollen. Das geschieht durch das eigene ständige und unwissende Erschaffen von Nichttugend, der eigentlichen Ursache ihres Leidens. Ebenso zerstören sie systematisch alles Tugendhafte, die Ursache von Glück, als ob es ihr schlimmster Feind wäre, obwohl sie sich einzig und allein nach Glück sehnen.
[29] Kurz gesagt, kennen fühlende Wesen die Methode nicht, wie Freiheit von Leiden erlangt wird. Sie sind ohne Glück und immer von Leid und Sorgen geplagt. Es ist der Bodhisattva, der durch die Kraft des kostbaren Bodhichittas ihre Leiden vertreibt und sie zum Glück führt. [30] Wo gibt es deshalb eine Tugend, die mit Bodhichitta, dem Erleuchtungsgeist, zu vergleichen ist, der die Verwirrung aller Wesen vertreibt, ihr Leiden ausmerzt und ihnen grenzenlose Freude gewährt? Wo gibt es einen Freund, der gleich dem kostbaren Bodhichitta alles Gute erreicht und alles Schädliche verhindert? Wo gibt es Verdienste, die dem Erleuchtungsgeist ähnlich sind?
LOBPREISUNG AN DIEJENIGEN, DIE BODHICHITTA ERZEUGT HABEN
[31] In dieser Welt loben und respektieren wir im allgemeinen einen Menschen, der die Güte, die er von jemand anders empfangen hat, erwidert. Wenn dem so ist, wie können wir auch nur anfangen, von der großen Güte eines Bodhisattvas zu reden, diesem unendlich mitfühlenden Wesen, der anderen bedingungslos hilft, ganz gleich, ob auch sie ihm geholfen haben oder nicht? Von Großem Mitgefühl getragen, hilft er allen fühlenden Wesen vorbehaltlos, indem er sie auf zahllose Weise aus dem Leiden zum Glück führt. Ist es da noch notwendig, daß man vom Lob und der Verehrung spricht, die einem solch glorreichen Wesen gebührt?
[32] Jemand gibt vielleicht ein paar Bettlern etwas zu essen, genug für einen halben Tag. Selbst wenn er diese Wohltätigkeit ärgerlich und mit schlechten Gefühlen ausübt, was ist die allgemeine Reaktion auf diese Handlung? Die Bettler sind dankbar, und der Mann wird von anderen Menschen gelobt. Sie sagen: «Er ist ein großer Wohltäter und hat viel Tugend angesammelt.» [33] Wenn dem so ist, ist es noch notwendig das Lob und die Ehrerbietung zu erwähnen, die einem Bodhisattva gebührt? Solange Samsara besteht, strebt dieser unvergleichliche Wohltäter danach, nicht nur die vorübergehenden Wünsche der zahllosen fühlenden Wesen zu erfüllen, sondern ihnen auch die einzigartigen Freuden der Erleuchteten zu gewähren. Wenn wir diese Begründung richtig verstanden haben, sollten wir immer den größten Respekt für die Bodhisattvas empfinden. Allein indem wir uns an ihren tugendhaften Handlungen erfreuen, empfangen wir unermeßliche Verdienste.
Einige mögen sich fragen, was der Bodhisattva unternimmt, um anderen Lebewesen vorübergehendes und endgültiges Glück zu gewähren. Es gibt eine, große Vielfalt möglicher Handlungen, weil der Bodhisattva immer entsprechend den verschiedenen Veranlagungen der einzelnen Wesen handelt. Manchmal wird er anderen durch Unterweisungen helfen, manchmal wird er materielle Hilfe geben und manchmal wird er diejenigen beschützen, die sich in Not befinden oder große Angst haben. Sehr fortgeschrittene Bodhisattvas können sich entsprechend den Bedürfnissen der Wesen in verschiedenen Formen manifestieren. Je nach Situation und Notwendigkeit ist es für sie möglich, als Freund, Helfer oder sogar als unbelebter Gegenstand zu erscheinen. Der hauptsächliche Weg aber, wie ein Bodhisattva anderen Lebewesen hilft, ist durch das Lehren des Dharmas, der eigentlichen Methode, die fühlende Wesen aus den Leiden Samsaras zum Zustand der höchsten Erleuchtung führen kann. Wenn die Lebewesen aber kein Interesse am Dharma haben, ist es ihm nicht möglich, sie zu lehren. Deshalb manifestiert er sich für solche Wesen entsprechend ihren vorübergehenden Bedürfnissen.
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