Shantideva erklärte im letzten Vers, daß es viele Formen von Bodhichitta gibt, die aber alle in den folgenden zwei Aspekten enthalten sind: im anstrebenden und im ausübenden Geist. [16] Diese beiden Aspekte können mit dem Wunsch, irgendwo hinzugehen, und dem eigentlichen Gehen verglichen werden. Zuerst entsteht der Geist, der danach strebt oder sich wünscht, an ein bestimmtes Reiseziel zu gelangen, und dieser Wunsch bleibt auch während der Reise bestehen. Auf ähnliche Weise will der anstrebende Bodhichitta die Erleuchtung zum Wohl aller fühlenden Wesen erlangen und diese Geisteshaltung bleibt bestehen, bis das Ziel erreicht ist. Der ausübende Erleuchtungsgeist beginnt mit dem Empfangen der Bodhisattva-Gelübde. Von diesem Zeitpunkt an praktiziert man tatsächlich die Übungen, die zur Erleuchtung führen: die Sechs Vollkommenheiten und andere tugendhafte Handlungen.
Die zwei Aspekte des Erleuchtungsgeistes werden durch das Befolgen der entsprechenden Grundsätze und Gelübde im eigenen Geist stabilisiert. Zuerst verpflichten wir uns in der Gegenwart eines Lehrers oder der visualisierten Versammlung der Buddhas dem anstrebenden Erleuchtungsgeist. Zu diesem Zeitpunkt versprechen wir, diesen Geist niemals wieder aufzugeben, sondern ihn bis zur Erlangung der Erleuchtung festzuhalten. Dann versprechen wir, die folgenden acht Grundsätze einzuhalten, damit dieser anstrebende Geist in diesem und allen zukünftigen Leben nicht degeneriert. Für dieses Leben versprechen wir:
(1) Uns immer wieder an den Nutzen von Bodhichitta zu erinnern
(2) Bodhichitta dreimal während des Tages und dreimal während der Nacht zu erzeugen
(3) Nie die Absicht aufzugeben, fühlenden Wesen zu helfen
(4) Eine große Menge an Verdiensten und Weisheit zu erwerben
Die vier Grundsätze, die das Degenerieren des anstrebenden Erleuchtungsgeistes in zukünftigen Leben verhindern, sind:
(5) Unseren Lehrer, Abt oder Präzeptor nicht zu täuschen
(6) Andere nicht von tugendhaften Handlungen abzubringen, sei es dadurch, daß wir uns nicht an ihren tugendhaften Handlungen erfreuen, oder dadurch, daß wir bewirken, daß sie ihre schon ausgeführten tugendhaften Handlungen bereuen
(7) Zu vermeiden, diejenigen, die in den Mahayana-Pfad eingetreten sind, und insbesondere wirkliche Bodhisattvas zu kritisieren
(8) Zu vermeiden, irgendein fühlendes Wesen zu täuschen
Wenn der anstrebende Erleuchtungsgeist stabil und voller Ermutigung ist, entwickelt der Bodhisattva ganz natürlich den Wunsch, alle Vollkommenheiten zu praktizieren: die reinen Handlungen eines Bodhisattvas. Zu diesem Zeitpunkt werden die Gelübde des ausübenden Erleuchtungsgeistes erneut entweder in der Gegenwart eines Lehrers oder vor der visualisierten Versammlung der Buddhas abgelegt. Zu diesem Zeitpunkt verpflichtet man sich, alle Grundsätze, die in der Praxis der Sechs Vollkommenheiten enthalten sind, zu beachten. Die Sechs Vollkommenheiten werden später in diesem Kommentar erklärt, und die Zeremonie, in der die Bodhisattva-Gelübde abgelegt werden, wird im dritten Kapitelbeschrieben.
Wenn die vollständigen Bodhisattva-Gelübde abgelegt werden, verwandelt sich der anstrebende Geist des Bodhichittas in den ausübenden Geist des Bodhichittas. Wenn alle Grundsätze auf reine Weise eingehalten werden, kommt der Bodhisattva der höchsten Erleuchtung immer näher. Werden die Grundsätze aber mißachtet, gebrochen und aufgegeben, entstehen schwere negative Folgen, die unseren Geist weiter vom Ziel entfernen. Eine vollständige Erklärung der achtzehn Hauptgelübde und der sechsundvierzig Nebengelübde eines Bodhisattvas gibt Arya Asanga in Ebenen eines Bodhisattvas (Skrt. Bodhisattvabhumi) und Je Tsongkhapa in Der Hauptpfad zur Erleuchtung (tib. Byang chub shung lam). Ein Kommentar ist auch im Buch Das Bodhisattva-Gelübde enthalten.
DER NUTZEN DES ANSTREBENDEN BODHICHITTAS
Wenn jemand allen erleuchteten Wesen ein Universum voller kostbarer Juwelen darbringt, wird er, so heißt es, durch diese Handlung wahrlich gewaltige Verdienste erwerben. Buddha Shakyamuni aber sagte, daß das Verdienst, das allein durch den anstrebenden Erleuchtungsgeist entstehe, tausendmal größer sei. Diese anstrebende Geisteshaltung überwindet die Nachteile und Hindernisse Samsaras und überstrahlt die Qualitäten derjenigen spirituell Praktizierenden, die nur ihre eigene Befreiung anstreben - die sogenannten Hörer und Alleinigen Eroberer. [17] Aber so groß dieser Nutzen auch ist, aus dem anstrebenden Geist entsteht kein derart unaufhörlicher Strom an Verdienst, wie er aus dem ausübenden Erleuchtungsgeist entsteht.
DER NUTZEN DES AUSÜBENDEN BODHICHITTAS
[18-19] Vom Zeitpunkt an, an dem die vollständigen Bodhisattva-Gelübde mit dem furchtlosen Geist abgelegt werden, sich niemals von der Aufgabe abzuwenden, alle fühlenden Wesen von ihrem Leiden zu befreien und sie zur Erleuchtung zu führen, entstehen unvorstellbare und große Verdienste. Die Verdienste einer solchen Geisteshaltung sind viel größer als die Verdienste, die aus dem anstrebenden Erleuchtungsgeist entstehen. Sie entstehen selbst dann, wenn der Bodhisattva schläft, sich unbesorgt gibt oder wenn er scheinbar berauscht ist. Außerdem werden sämtliche Handlungen einer Person, die diesen ausübenden Erleuchtungsgeist besitzt, d.h. alle Handlungen von Körper, Rede und Geist, zur Ursache für die Erlangung der höchsten und vollendeten Erleuchtung.
WARUM DIESER NUTZEN AUS BODHICHITTA ENTSTEHT
Es gibt zwei Arten von Begründungen, die den enormen Nutzen des Bodhichittas zeigen: Begründungen aus den Schriften und logische Begründungen. [20] Was die Begründungen aus den Schriften anbelangt, hat Buddha selbst die vielen Vorteile, die aus der Entwicklung des Erleuchtungsgeistes entstehen, im Sutra, das von Subahu erbeten wurde (Skrt. Subahupariprcchasutra) aufgelistet. Weshalb gab er diese Unterweisung? Um diejenigen, die geneigt waren, dem Hinayana-Pfad zu folgen, der nur zur eigenen Befreiung von Leiden führt, davon zu überzeugen, den Mahayana-Pfad zu begehen, der zur vollständigen Erleuchtung zum Wohl aller fühlenden Wesen führt.
Die logische Begründung zum Nachweis der Vorteile von Bodhichitta entsteht aus der Beobachtung, daß es im allgemeinen viele Formen von tugendhaften oder guten Absichten gibt, die man haben kann. Zum Beispiel hat eine Mutter gute Absichten gegenüber ihrem eigenen Kind, und wir haben vielleicht gute Absichten gegenüber den Armen und Bedürftigen. Aber die guten Absichten eines Bodhisattvas, dessen Großes Mitgefühl alle Lebewesen umfaßt, sind noch viel größer. Der Unterschied zwischen der tugendhaften Absicht eines gewöhnlichen Wesens und der eines Bodhisattvas ist vergleichbar mit dem Unterschied zwischen der Größe eines Fingernagels und der Weite des Himmels.
Der riesige und unübertroffene Nutzen des Bodhichittas wird durch die folgende Geschichte aus einem früheren Leben Buddha Shakyamunis verdeutlicht. Es heißt, daß er in jenem bestimmten Leben sehr viel negatives Karma erschuf, weil er heftigen Streit mit seiner Mutter hatte und über ihren Kopf hinwegstieg, als sie auf dem Boden lag und versuchte, ihn am Fortgehen zu hindern. Infolge dieser schweren nichttugendhaften Handlung wurde er in einem Höllenbereich wiedergeboren. In diesem karmisch entstandenen Bereich mußte er ständige und unerträgliche Qualen erleiden, weil sein Kopf durchbohrt wurde. Es umgaben ihn andere Wesen, die alle die gleichen Qualen erdulden mußten. Der Anblick dieser leidenden Wesen berührte das Herz des Jungen. In seinem Geist war die karmische Prägung einer früheren guten Absicht eingepflanzt. Als diese durch den Anblick der Qualen der anderen Wesen in ihm geweckt wurde, betete er: «Wie wunderbar wäre es, wenn alle diese fühlenden Wesen von den schrecklichen Schmerzen befreit wären, die ihrem Kopf zugefügt werden. Möge all dies Leiden in mir reifen!» Die Kraft dieser tugendhaften Absicht war so stark, daß sein gesamtes negatives Karma, das er durch das Verletzen seiner Mutter angesammelt hatte, vollständig gereinigt wurde. Danach wurde er sofort in einem himmlischen Deva-Bereich wiedergeboren.
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