1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Gestern bemerkte ich unten im Eingangsbereich diverse Einkaufstüten aus der Stadt, also echt teure Klamotten. Zuerst dachte ich an Jenny, doch die zuckte vollkommen unschuldig mit ihren Schultern, was sehr selten in den letzten Monaten vorkam. Diesmal nahm ich diese richtig positive Unwissenheit meiner älteren Schwester anstandslos ab. Langsam fanden wir beide wieder zueinander. Doch ihre Neugier konnte auch darauf basieren, zu hoffen, dass der Inhalt vielleicht für sie erworben worden war. Als Trostgeschenk konnte ich ihre Hoffnung durchaus nachvollziehen. So komisch war meine Schwester eigentlich gar nicht, nur etwas vom Weg abgekommen. Bestimmt wegen dieser Pubertät. Noch solch seltsames biologische Zeugs, was ich versuchen sollte, zu umgehen. Weiträumig. Und wenn ich nur ein Licht für sie hochhalten musste, damit Jenny zurück zu uns käme, dann würde ich das gerne auch viel länger tun. Ohne Jenny stürbe ich öfter aus Langeweile.
Doch jetzt hatte ich für diese Erinnerungen an gestern keinen Nerv mehr. Dad war längst nach Berlin abgereist, da brach bei Jenny die Enttäuschung aus, weil die Tüten nicht für sie bestimmt gewesen waren. Meine Ungeduld nervte mich selbst enorm. Kaum war ich im Wohnzimmer, betrachtete mich Jenny entspannt und mit einem gespielten Lächeln. Besser als die übliche Masche, bei der ich sie bemitleiden sollte. Und dann summte das Mobilteil. Jenny schaute aufs Display und runzelte ihre Stirn.
Sie fragte mich verwirrt: „Geronimo?“
„Ja, Dads Codewort. Darf ich mal? Muss ihn zurückrufen“, sagte ich gerade heraus und Jenny lächelte mir verunsichert zu.
Überraschte sie mich erneut, weil sie nicht einmal nachfragte, sondern mir das Mobilteil wortlos aushändigte. Es geschehen manchmal wirklich seltsame Dinge in dieser Welt. Schnell rief ich Dad an. Es dauerte ein wenig länger, bis es klingelte. Nebenbei bemerkte ich, dass sich Jenny aufrecht und aufmerksam hinsetzte. Aha, jemand nahm ab. Meine Schwester verlor leider ihre grenzenlose Neugier nicht.
„Hallo, hier ist Samantha. Wer ist denn da auf der anderen Seite?“, fragte mich eine vertraute Stimme auf Englisch.
Woraufhin ich breit grinsend antwortete: „Hi, Samantha. Olivia ist dran. Bist du okay?“
Jenny begann mit offenem Mund, dem Gespräch zu lauschen und wollte anscheinend, dass ich die Freisprechfunktion anschalte.
„Ja, ich bin okay. Wie geht es dir, Olivia? Vermisst du deinen Dad?“
Ha, alle dachten, ich sei so ein Püppchen, außer Timothy, der ahnte ein wenig, wie ich so tickte. Klar ging es mir gut. Granny bereitete uns hier beinahe den Himmel auf Erden. Lecker Essen und grandiose Geschichten von Grandpa und Dad. Für mich jedenfalls erfüllte sich ein lang gehegter Wunsch.
„Hmm, ehrlich? Momentan nicht. Granny ist ja da. Was macht Dad gerade?“, schmiss ich Samantha meine Ehrlichkeit einfach so hin.
Kurz vernahm ich ein Glucksen auf der anderen Seite. Trotzdem merkte ich ein seltsames Zittern in Samanthas Stimme. Wer weiß, was Dad wieder im Schilde führte. Aber Samanthas Stimme hatte so einen seltsamen Unterton.
„Wo ist Dad?“, rief Jenny dazwischen.
Gute Frage meiner Schwester. Gleich bemerkte ich ein weiteres Atmen am Telefon.
„Dein Dad sitzt neben mir. Er isst lächelnd ein Lachs-Sandwich“, berichtete Samantha kurz.
In Berlin und schlemmen mit einer Frau? Also mit Granny abhängen glich dem ganz bestimmt. Moment, nicht dass sie dazu genötigt wurde, uns das vorzugaukeln. Jenny verzog seltsam das Gesicht und verschwand umgehend aus dem Wohnzimmer. Manchmal würde ich gerne mal in ihrem Kopf ein wenig nachsehen, welche Probleme da drinnen eigentlich steckten.
„Ist er auch lieb zu dir?“, fragte ich folgerichtig.
Samantha erwiderte ironisch: „Hmm, also ich weiß es nicht genau. Ob dein Papa lieb zu mir ist oder sein wird?“
Kurze Pause meinerseits, weil ich doch etwas nachdenken musste, fragte dann: „Na gut. Kommst du uns auch bald besuchen?“
Samanthas Antwort ließ mich hoffen: „Olivia, ich würde euch sehr gerne besuchen und kennenlernen. Sobald ich wieder in der Nähe bin, treffen wir uns. Versprochen.“
Alleine konnte ich frei von der Leber wegreden: „Ich bin total neugierig auf dich. Wirklich. Entschuldige, kannst du mir Dad mal geben, ja?“
Nun hörte ich entschuldigend, aber erleichtert: „Ja. Er hat gerade einen Moment, eine freie Hand und einen leeren Mund. Bis bald.“
„Du futterst dich also in Berlin durch? Aber Samantha redet schon wieder mit dir? Heißt das, ihr seid wieder zusammen?“, trötete ich ihn an.
„Samanthas Eltern tischen heute ein sehr leckeres Buffet auf. Ihre Schwester Patrizia und ihr Schwager sitzen auch noch mit am Tisch. Irgendwelche Krisen bei euch?“, beschrieb er die Runde und horchte mich aus.
„Du lenkst ab, Dad. Nein, hier gibt es keine Krisen. Granny ist doch hier. Sie ist total entspannt und super lieb. Ich finde es toll. Jaz scheint gerade etwas genervt zu sein, weil er immer noch wie ein Teenager behandelt wird und Jenny ist immer noch ab und an komisch.“
Also Samantha hatte eine Schwester, merkte ich mir angelegentlich.
Wie die wohl so ist? Ob es auch Unterschiede, wie zwischen Jenny und mir gibt?
Dads Antwort: „Aha. Nicht schlecht. Granny ist viel lieber, als ihr dachtet. Hab ich recht? Jenny braucht Zeit. Sie muss ihre Erlebnisse und Fehler erst mal verarbeiten.“
„Wenn du Samantha heiraten würdest, wäre doch Samanthas Schwester meine Tante, stimmt es?“, wollte ich wissen.
Er lachte kurz auf: „Samanthas Schwester heißt Patrizia und ihr Mann Marko. Und genau, du hast recht, das wären dann quasi deine neue Tante und dein neuer Onkel, aber von Heirat zu sprechen, ist ein wenig anmaßend.“
Zurück zum Zittern in Samanthas Stimme, sollte ich noch mal nachhaken, ob es ihr auch gut ging: „Sag mal, Samantha geht es doch gut, oder?“
Kurz hielt mein Dad inne: „Doch. Samantha sieht wundervoll aus, obwohl sie nicht entspannt zu sein scheint.“
„Versprich mir, dass du sie küsst! Aber so richtig. Dann geht es ihr bestimmt besser“, drängte ich meinen Dad zum Handeln.
Denn Samantha fand ich auf eine unerklärliche Art echt cool. Ihre Stimme und ihre Einstellung beeindruckten mich, weil ich bei so alten Menschen meistens Toleranz und Verständnis für uns Kinder vermisste.
Mein Dad war ehrlich und erwiderte auf meine Bitte: „Versprechen kann ich es nicht, aber ich gebe mein Bestes.“
„ Dad, gib dir Mühe und bleib lieb und nett, ja?“, wollte ich ihm ein Versprechen abringen.
Abschließend beendete Dad das Gespräch: „Na klar. Du, wir sehen uns am Freitag. Freue mich wieder auf euch alle. Hab dich lieb, Olivia.“
Ich beendete das witzige Gespräch und legte auf: „Bye Bye Dad. Bis Freitag.“
Es ging mir richtig gut. Hinterher ärgerte ich mich jedoch, dass ich irgendwie nach Mädchen geklungen hatte. Samanthas Stimme hörte sich wirklich angenehm an. Meine Neugier, diese Frau kennenzulernen, wuchs von Tag zu Tag an. Auch im Netz fand ich nach meiner Recherche wirklich tolle Einträge von ihr. Es beruhigte mich, mit ihr zu reden. Momentan geschah so viel in meinem Leben, das ich solche Gesprächspartner gut gebrauchen konnte. Leider zählte meine Schwester nicht dazu. Und Jason schwirrte in seiner eigenen Welt umher. Timothy verbrachte erfreulicherweise viel Zeit in meiner Nähe. Ab und an schnitten mir seine Freunde Grimassen. Gestern probierte ich mit Geschick und Erfolg aus, auf seinem Skateboard zu fahren. Diese halbe Stunde erlebte ich mit ihm irre viel Spaß. Nun wollte ich auf ein eigenes Skateboard sparen, damit ich mit ihm gemeinsam herum rollen konnte. Im Kreis seiner Freunde behandelte er mich bei weitem nicht so nett, als wären wir alleine. Mittlerweile hatte ich einen Plan, denn er verriet mir, welche Probleme er in der Schule hatte. Zufälligerweise die Fächer, die mir leicht fielen. Englisch und Literatur, Chemie und Kunst zählten zu meinen starken Fächern. Dafür lernte ich von ihm etwas Mathematik und auch diesen Computerscheibenkleister. Bei ihm bekam ich mehr mit, als in der Schule.
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