Jennys bessere Hälfte
Olivia Haggerthon
London, Oktober 2015, Mittwoch
Da saß ich nun in meinem Zimmer und dachte an Dad, der gerade auf Liebesmission in Berlin versuchte, Samantha zurückzuerobern. Zweifel an der Trennung der beiden, warum die beiden auseinandergegangen waren, wurmten meine Eingeweide. Bestimmt steckte mein Dad dahinter. Oft genug war er gefühlsblind oder begriff einfach nicht, warum es Menschen mit Hintergedanken gab. Gestern kam er nach meinen erneuten Fragen zu seinem Plan zu mir. Echt, zu mir. Weder zu Jason noch zu Jennifer, sondern zu mir. Nach ewigem Grübeln vermutete ich, weil ich einen Draht zu Samantha aufgebaut hatte?
Vor zwei Monaten wäre solch ein Nachfragen undenkbar gewesen. Seltsamerweise mochte ich diese Frau aus Berlin einfach. Mystik umschwärmte sie, denn Samantha war keine Tussi, keine verknöcherte Lady, keine durchgeknallte Pseudolehrerin und auch keine dieser Besserwisserinnen. Weshalb ich so empfand, wusste ich dennoch nicht. Aber in mir rumorte es unbestimmt. Eben erinnerte ich mich an einen Teil aus „Rubinrot“ und schlussfolgerte für mich, dass sie eine wirklich tolle Mutter wäre. Hinzukam, dass diese Berlinerin ziemlich hübsch war. Na ja, für so eine alte Frau eben. In dem Alter sehe ich bestimmt total daneben aus, trage komische Kostüme mit violetten gelockten Haaren. Eigentlich hatte ich ein vollkommen falsches Bild von über vierzigjährigen Frauen. Ihr sah man das Alter überhaupt nicht an. Zwar wusste ich nicht genau, was sie alles mochte und anzog, doch gierte ich danach, all dies herauszufinden. Dieser Frau musste ich auf den Zahn fühlen, entschied ich leicht debil grinsend.
Am Nachmittag kam Dad und klopfte stilecht dreimal an meine Tür, was mich erfreut aus meinem Sessel aufschrecken ließ. Gerade als ich ihn zum Sessel führen wollte, schloss er hinter sich noch sehr sorgfältig die Tür. Zwei Minuten hockte er bereits vor mir und sinnierte über unausgesprochene Rätsel, während er ab und an aufblickte und mir seine Aufmerksamkeit schenkte. Wohingegen ich im Schneidersitz auf meinem Bett saß, mein „Saphirblau“ in der Hand hielt und auf die Spieleröffnung des Earls of Haggerthon wartete.
„Also, ich“, verstummte er danach wieder.
Es reichte mir aber langsam, weshalb ich ungeduldig nachhakte: „Dad, raus damit, ich bin deine Tochter, du weißt schon, die kleinste, verkorkste und total komische Haggerthon-Tochter. Egal was es ist, ich verkrafte das schon.“
Er begann zu grinsen, nickte mit dem Kopf und hielt mir seine Hand hin. Dann holte er Luft und hörte auf, mit den Fingern auf der Sessellehne Kreise zu zeichnen. Gleich darauf drehte er sich frontal zu mir. Manchmal ängstigte mich dieser riesige Mann wirklich. Trotz seines Alters konnte er mich tragen, was ich mitunter urkomisch fand, mich aber auch beeindruckte.
„Livi, meine Süße, morgen fliege ich nach Berlin, um Samantha zurückzuerobern. Leider weiß ich nicht, wie ich es anstellen soll“, teilte er mir seine Sorgen mit.
Perplex dachte ich erst darüber nach, ob ich träumte oder ein Wunschdenken mir etwas vorgaukelte. Wusste er wirklich nicht, wie er sie zurückerobern sollte? Seine Augen blickten mich erwartungsvoll an. Kurz dachte ich nach, dann erinnerte ich mich an meine Geschichten, die ich gelesen hatte und an Samantha.
„Einfach alles tun, was dich berührt. Samantha ist doch intelligent und sah nicht danach aus, auf Etikette pochen zu müssen. Oder liege ich etwa falsch?“, sprudelte es aus mir heraus.
Dann fragte mein Dad unsicher: „Blumen, Konfekt oder Champagner? Am besten alles, oder?“
Pikiert ranzte ich ihn an: „Hää? Bist du ein Klon oder wirklich mein Vater? Also was tat sie für uns?“
Mein Vater zuckte mit den Schultern, was mich vollkommen schockierte. So blind konnte er doch nicht gewesen sein.
Musste ich ihm das also wirklich in Erinnerung rufen: „Sie ist für uns da gewesen und wollte dir helfen. Also vergiss mal solche blöden Geschenke. Und woher willst du wissen, was sie mag?“
„Du hast das auch so gesehen?“, tippte er sich mit seinem linken Zeigefinger bedächtig auf seine Lippen.
Oh nein, Männer sind manchmal wirklich nicht zu beneiden. Solch eine Blindheit hab ich in unserer Familie noch nicht erlebt. Vielleicht bedeutet das ja Verliebtsein.
Mist, dann will ich lieber nicht verliebt sein.
Konnte aber auch auf Vitaminmangel hindeuten. Besser erst einmal langsam vortasten.
„Geht es dir gut? Hast du gut gegessen?“, erntete ich auf meine Frage ein erstauntes Nicken.
„Besoffen bist du auch nicht?“, war gar keine gute Frage, weil die Nase vom Lord George versuchte, abzuheben.
Achseln und Arme hebend, versuchte ich, auf unschuldig zu machen und fragte ganz vorsichtig: „Verliebt?“
Kurz zuckte ich zusammen, weil dieser Lulatsch aufsprang, sich wegdrehte und kurz auf und ab lief, aber letztlich mich breit grinsend ansah: „Oh je, ich glaube schon!“
Erschrocken aber auch erleichtert fügte ich meiner Vermutung schnell hinzu: „Au Backe! Also zuerst tu das, was dein Herz dir sagt, sobald Samantha in deiner Nähe ist. Bitte, bitte, drehe nicht durch und behalte deinen Kopf da oben, okay?“
Verliebter Dad in Berlin, wer weiß, wie das enden wird.
Allerdings hätte ich nicht gedacht, dass Samantha ihn dazu bringt, um sie zu kämpfen. Hoffentlich baute er keinen Blödsinn, wie die Jungs in unserer Schule. Mir kamen Bilder von Gefängnissen in den Sinn, weil diese Streiche und gegenseitigen Mutproben sehr unsinnig gewesen waren, die ich beobachten musste. Wenn so ein Junge schon solch ein grenzwertiges Verhalten zeigte, welches Schauspiel bot wohl so ein riesiger verliebter Mann dann? Fand ich das eigentlich gut, was ich ihm riet?
„Das werde ich tun. Ein wenig kenne ich Samantha schon. Und ich werde es nutzen müssen. Meinst du, ihr drei Musketierchen steht zu ihr?“, wollte Dad mich aushorchen.
Da drängelte sich wieder diese eine Frage auf, die ich gleich meinen Dad entgegenschleuderte: „Warum ich? Warum fragst du mich?“
Genau in diesem Augenblick erstrahlte sein ganzes Gesicht und er sagte ganz ruhig: „Weil du deiner Mum am ähnlichsten bist. So einfach ist es. Und damit, ahne ich, was ich tun muss. Danke, Braunlöckchen.“
Kurz umarmte er mich. Doch ich hatte genug von dieser Besorgnis uns drei betreffend, seiner Unwissenheit für seine Gefühle und schob ihn aus meinem Zimmer. Er lachte, steckte mich damit an und so endete einer der krassesten Dialoge zwischen meinem Vater und mir. Seine letzte Antwort hatte mich erstaunlicherweise glücklich gemacht. Doch kurz darauf bekam ich eine Nachricht. Diese Nachricht holte mich zurück in die Wirklichkeit.
Jenny tat mir langsam ein wenig leid. Ihre Stille rührte bestimmt von ihren letzten Erlebnissen. Stellte ich mir schrecklich vor. Trotzdem grübelte ich immer noch über all die seltsamen Geheimnisse nach. Diese blöden Mobber samt der abgefahrenen Superheldin und dann noch Samantha. Erst stand die Welt still und nun rast sie irgendwohin. Normalerweise würde ich mich zurückziehen und mich verstecken. Jedoch packte mich Neugier und eine Art Ungeduld. Hoffentlich sind das nicht die ersten Anzeichen von Pubertät. Na gut, ich sollte Dad anrufen, sobald er uns eine Nachricht über seine Ankunft geschickt hatte. Klang nach einem von Dads abstrusen Plänen, die mitunter vollkommen abwegig schienen und doch funktionierten. Oft erzählte Jason aus den guten alten Zeiten, als mein Vater noch immer verliebt in meine Mum, ihr immer wieder mit heimlichen Plänen seine Zuneigung bewiesen hatte. Klar gab es die üblichen Vorhaben, aber einige müssen doch ganz schon schräg gewesen sein. Mein kleines Tagebuch nutzend notierte ich mir diese Frage für einen späteren Zeitpunkt.
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