1 ...6 7 8 10 11 12 ...24 Aber, welch Wunder: Er stellt den Motor ab.
Ich reibe an meinem Ohr, aus Nervosität. Die Sekunden zischeln wie an einer Zündschnur. Gleich wird alles vorbei sein.
Herr Runner steigt aus, umrundet das Auto, öffnet die Tür und reicht mir seine Hand. Ich setze erst den rechten, dann den linken Fuß in die frostige und abweisende Nacht.
Jeff lächelt das Lächeln eines Zufriedenen und hebt seinen Arm, damit ich mich einhaken kann. Mit getragenen Schritten geleitet er mich zu meinem Auto, als wären wir auf einer Beerdigung.
Ich fuhrwerke absichtlich umständlich in der Handtasche nach dem Autoschlüssel. In der Ferne heult eine Sirene und ich will schreien: ›Hierher! Kommen Sie, verhaften Sie diesen Mann!‹
Ein Manöver des letzten Augenblicks wäre jetzt nötig, um das Ende abzuwenden und den Anfang von etwas Neuem zu schaffen. Immer noch krame ich in der Handtasche und befürchte, es beginnt suspekt zu wirken.
»Danke für den schönen Abend, Sofia. Ich habe ihn sehr genossen«, höre ich ihn sagen.
Danke! Das kommt einer schallenden Ohrfeige gleich und ich mache mir ernsthaft Gedanken über mein Manöver und blicke ihn an, in dieser speziellen Art, die ein Mann nicht missdeuten kann.
»Du musst vorsichtig fahren, die Straßen sind rutschig.«
Ich senke den Kopf. Auf seinen glänzend polierten Lederschuhen spiegelt sich die traurige Wahrheit: Er verschmäht mich.
Aber ich spüre diese starke Verbindung. Sollte ich mich so täuschen? Traut er sich nicht – wegen der Hautfarbe?
Entschlossen, das Manöver des letzten Augenblicks einzuleiten, öffne ich die Lippen einen Spalt, zu unbedeutend noch, als für die Forderung eines Kusses gehalten zu werden, aber doch einladend genug.
Unsere Blicke treffen sich. Seine Augen schimmern wie die Oberfläche eines tiefen Sees in einer kristallklaren Winternacht, auf der sich das Mondlicht spiegelt. Da gibt es keine Wellen, die sich irgendwo hineinstürzen.
Der Mann, den ich nicht mehr wiedersehen werde, küsst mich auf die Wange, als wäre ich seine Schwester. Ich schäme mich für meine Gedanken und komme mir verdorben vor.
Die Minuten sind abgebrannt.
Das war’s. Ende.
Ich steige in mein Auto und hinter meinen Augäpfeln bildet sich ein Meer von Tränen. Ich starte den Motor und rüttle an dem Schaltknüppel. Wo ist denn dieser scheiß Rückwärtsgang? Und warum zum Henker grinst Jeff so? Verdammt! Ich reiße den Hebel in die richtige Position, stoße einen Meter zurück und höre das verzweifelte Quietschen des Gummis am Randstein. Endlich und absichtlich langsam fahre ich aus der Parklücke, vielleicht würde er mich noch aufhalten wollen. Aber nein. Er steht nur da, mit diesem buddhaähnlichen Lächeln.
Mein Herz will bersten und durch die Windschutzscheibe springen, zu ihm – in seine Arme. Er winkt mir zu, und ich entferne mich von ihm, Meter um Meter, bis er im Rückspiegel auf die Größe eines Mensch-ärgere-Dich-nicht-Männchens geschrumpft ist.
Aaah! Am liebsten würde ich ein Stück aus dem Lenkrad beißen. Danach folgt etwas sehr Simples: Das Gefühl, nicht begehrt zu sein, unwichtig zu sein.
Die bleich beleuchtete Straße, gesäumt von schattenhaften Bäumen, die Nachtwache halten und ihre knochigen Äste ins schwarze Nichts strecken, rollt sich wie eine Trauerschärpe vor den Lichtkegeln aus und gibt mir den Rest. Ich lasse den Tränen freien Lauf und trete das Gaspedal durch.
Dicke, fröhliche Flocken schneien aus dem Himmel und ich hasse jede einzelne davon. Schlimmer ist nur noch die knallgute Laune von Charlotte. Wenn sie mit einem Trällern auf den Lippen in der Werkstatt erscheint, hat es nicht nur saure Gurken zum Frühstück gegeben.
»Hallolele«, flötet sie, doch als ich mich umdrehe, versiegt ihr Lachen. »Sag mir sofort, dass du deshalb so aussiehst, weil er dich nicht hat schlafen lassen.«
»Nun, in gewisser Weise stimmt das, aber ich will nicht darüber reden.« Ich drehe mich weg, schwenke zurück. »Okay. Was willst du wissen.«
Nach einer knappen Schilderung der Ereignisse, vor allem derer, die nicht vorgefallen sind, verschwindet sie aus der Werkstattküche mit einem ›Ojemine …‹, in der Umkleidekammer. Unterdessen hole ich aus dem Gewölbekeller, eine Ebene tiefer, einen Zehn-Kilo-Brocken braunen, schamottierten Tons. Als ich wieder hochkomme, hockt Charlotte bereits breitbeinig auf ihrem Schemel und knetet einen Strang Ton für den Schwanz des Erdmännchens, das sie vor drei Tagen begonnen hat.
Ich wuchte den Ton auf die Töpferscheibe.
»Hm, schwul wird er ja wohl nicht sein, oder?«
»Charlotte!«
»Vielleicht hat er einen Schuss weg? Ich hab mal eine Doku gesehen über ehemalige Soldaten.«
»Das heißt Veteranen.«
»Meinetwegen. Manche drehen durch und –«
»Ich drehe auch gleich durch!« Ich greife nach dem Skalpell und stoße es in den Ton. »Es ist aus. Ich mache Schluss. Schluss. Schluss.« Wie von Sinnen hacke ich in den Ton.
Charlotte schaut von ihrer Arbeit auf, aber ich höre nicht auf, sondern hacke weiter hinein, bis er so löchrig wie ein verfluchtes Sieb ist. Nennenswert besser fühle ich mich dadurch jedoch nicht.
»Wie lange, sagtest du, ist er noch hier?«
»Vier Tage.«
»Und vier Nächte.« Sie ritzt den Ton an der Stelle ein, an der das Erdmännchen seinen Schwanz erhalten wird. »Wenn er dir so gefällt, ergreif doch die Initiative; ist doch nur ›Gesundheitsvorsorge‹. Deine Worte. Warum hat er dich wohl angesprochen?«
Ich halte meine Drehscheibe an. »Das geht nicht. Erstens geht es mir nicht nur um Sex und zweitens verliere ich den Respekt vor mir, wenn ich mich ihm an den Hals werfe. Und seit wann denkst du so liberal? Passt das zu fünfundzwanzig Jahren Ehe?«
»Vierundzwanzig.« Charlotte legt ihr Skalpell zur Seite. »Was auch immer es ist, es ist eben nur für vier Tage – und vier Nächte. Was sagtest du? Leise und leicht wie eine Sommerbrise?«
Ich hasse sie. Immer muss sie das letzte Wort haben.
Als hätte man mich mit einem Eimer Eiswasser übergossen, schnelle ich aus der Rückenlage hoch. Mein Nachthemd klebt wie eine zweite Haut an mir und ich schnappe nach Luft.
Die Ziffern der Uhr leuchten mich rot an: 4.30 Uhr. Heute ist Samstag. Der Samstag. In wenigen Stunden wird er aufbrechen und in sein blödes Brüssel fahren. Bei diesem Gedanken wird mein Gesicht ganz heiß. Sollte ich nicht ein paar Baldriparan einwerfen und weiterschlafen, bis er weg ist? Ich schlage die Bettdecke zurück, stehe auf und schlurfe aufs Klo.
Aber seine Augen lügen nicht und ich weiß, was ich fühle, und ich weiß, dass er auch etwas fühlt.
Zwei Stunden lang wälze ich dieses Wissen im Bett hin und her und denke dabei immer wieder an Charlottes Worte: ›Ergreif doch die Initiative‹. Schließlich stehe ich auf – mit einem Plan.
Nach einer Dusche und einer Familienportion Espresso marschiere ich mit dem Handy in den Werkraum, der sich in einem Anbau auf der Westseite der Ranch befindet und in dem ich mich, trotz verglasten Daches, behütet fühle.
Es ist zwölf Minuten nach neun. Das Handy klingelt dreimal, viermal. Ich ziehe die Plastikhülle vom Körper des Adlermännchens, das ich vor zwei Nächten begonnen habe, und streiche über die kühle Oberfläche. Es klingelt das fünfte Mal. Vielleicht ist die Idee doch nicht so gut …
»Hello«, tönt es in mein Ohr.
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