»Wo genau wird das sein?«
»SHAPE, nicht weit von Brüssel. Ich weiß noch nicht, welches Haus ich nehmen soll. Es gibt drei zur Auswahl.«
»SHAPE? Was ist das?«
»Supreme Headquarters Allied Powers Europe. Hauptquartier der alliierten Streitkräfte in Europa.« Er konzentriert sich auf jedes Wort und starrt in den Orangensaft. »Ich hoffe, wir sehen uns noch einmal, bevor ich abreise.«
Nein, nein! Ich will die Geschichte dieser Narbe kennenlernen und deine Lippen auf meinen spüren.
K u s s … die Buchstaben schweben aus seinem Mund, und ich lecke jeden einzelnen mit der Zungenspitze ab.
»Wann gehst du denn?«, frage ich, obwohl ich von abreisen überhaupt nichts hören will.
Sein Gesichtsausdruck ist noch trostloser als vor der Diagnose ›Wochenendbeziehung‹. »Am Samstag.«
»Am Samstag? Welchen?«
»Kommenden.«
Nein! Die Antwort trifft mich wie ein Geschoss mitten ins Gesicht und ich schaue zur Seite, um meine maßlose Enttäuschung zu verbergen.
Außer dem Gleiten der Scheibenwischergummis ist im Wageninnern nichts zu hören. Schneeflöckchen schweben wie weiße Ministerne vom Himmel. Will er bloß einen fünftägigen One-Night-Stand? Falls ja, wäre bis zu meinem Auto ausreichend Zeit, um die Frage zu stellen.
Jeff schaut mich von der Seite an, und ich bin mir sicher, dass hinter seiner Stirn etwas vorgeht, aber ich habe keinen blassen Schimmer, was es ist.
Ich schenke ihm ein unschuldiges Doris-Day-Lächeln und atme gleichmäßig ein und aus. Es heißt doch immer, man soll sich auf das Atmen konzentrieren. Bitte schön: Das hilft überhaupt nichts!
Jeff biegt in die Fabrikstraße und hält hinter dem Ford. Was werde ich antworten, falls er mich fragt: ›Willst du noch mit zu mir und etwas trinken?‹ – ›Ja, aber nur mit Gummi?‹, oder: ›Erst, wenn ich die Geschichte deiner Narbe kenne?‹
Jeff öffnet mir die Wagentüre und ich steige aus. Er sieht mich an, ohne einen Piep von sich zu geben. Er öffnet seinen Mund. Kältewölkchen strömen heraus, sonst nichts. War’s das jetzt?
Ich lasse die Riemen meiner Handtasche von der Schulter gleiten, um nach den Schlüsseln zu suchen. Unter meinem Wollmantel donnert mein Herz.
»Danke für den schönen Abend«, sagt er.
»Magst du Jazz?«, höre ich mich fragen.
»Ob ich Jazz mag?« Er zieht eine Augenbraue nach oben, die mit der Narbe.
»Es gibt da ein Jazzlokal in Stuttgart, ›BIX‹, vielleicht kennst du es? Hättest du Lust, am Mittwoch dorthin zu gehen?«
Die Überraschung ist noch nicht aus seinen Zügen gewichen, als er mit einem »Ja, gerne« antwortet. Süße Hormone durchfluten mich.
Er beugt sich zu mir herunter. Sein Blick taucht in meine Augen wie ein Lot, das man ins Wasser lässt, um die Tiefe zu messen. Ich nehme sein Rasierwasser wahr – ein leichtes Kokosaroma. Er kommt noch näher. Seine Lippen berühren meine rechte Wange, und ich recke meinen Hals, um es noch ein wenig länger auskosten zu können; doch der Moment schmilzt dahin wie ein Eiskristall in einem zauberhaften Winternachtstraum.
Ein Strom aus Energie bahnt sich seinen Weg von der Fußspitze bis unter meine Kopfhaut. Sie prickelt, als trüge ich eine Mütze, durch deren Maschen Tausende von Volt fließen. Mit einem Mal bin ich hellwach.
Aus allen Richtungen kommen Puzzleteilchen in Windeseile angeflogen und vereinen sich zu einem faszinierenden Bild: Jeffs Antlitz.
Ich stehe auf, koche mir eine Familienportion Espresso und setze mich in meinen Schaukelstuhl auf die östliche Terrasse. Eingehüllt in die Weichheit und Wärme meiner Decke aus Yakwolle strotze ich minus vier Grad.
Die Sonne kriecht hinter der scharfen Linie des Horizonts hervor, bis sie schließlich wie ein flambierter Pfirsich darüber schwebt. Dort verweilt sie, als wäre sie zu erschöpft, um weiter zu steigen, und verteilt ihr Feuer zu allen Seiten.
Ein neuer Tag, ein neuer Anfang.
An wie vielen brennenden Sonnenaufgängen habe ich schon hier gesessen, mit den falschen Träumen? Will ich mich wirklich mit ihm einlassen? Aber was soll schon passieren? Der anfängliche Zauber wird sich bald verflüchtigt haben. Er wird weit weg sein. Da wird es unmöglich, Nähe aufzubauen. In gewissem Sinne ist das perfekt. Eine Art ›Special Operation‹. Alles wird locker und leicht sein, niemand wird leiden. Ich will nicht leiden. »Okay, Mister Bond«, sage ich laut und reibe mir die Hände.
Es gibt keinen Grund, durch den Ausstellungsraum zu schleichen und auf Samtpfoten die Holzstufen in die Werkstatt zu tapsen, außer dem, Charlotte zu überraschen.
Sie steht, mir den Rücken zugewandt, in der Küche und gießt Kaffee in die Thermoskanne. Ich trete lautlos an sie heran und wedle mit der Papiertüte dicht an ihrem Ohr.
»Huch, ich hab dich gar nicht gehört.«
»Das will ich hoffen.«
»Mhmm, riecht pfundig.«
»Apfelstrudel, noch warm.«
Mein Grinsen muss wie Vanillesoße über mein Gesicht laufen, denn Charlotte sagt nur: »Nein.« Sie ohrfeigt mich, springt zum Holzbüfett und reißt eine Schublade nach der anderen auf.
»Hey!« Ich reibe mir die Wange. »Was soll denn das?«
»Dass Gefahr im Verzug ist. Das lässt sich ganz bequem in deinem Gesicht ablesen und du sagtest einmal, wenn das der Fall sein sollte, soll ich dir eine knallen.« Sie streckt mir ein DIN-A4-Blatt hin. »Komm. Nimm es.«
Ich lege meinen Kopf schief und lese die Überschrift ›AFP‹, darunter ›Anti-Frustrations-Programm‹. »Ich bitte dich. Ich war nicht zurechnungsfähig als ich das verfasst habe.«
»Das bist du jetzt auch nicht. Du wolltest ein Sabbatjahr einlegen, innerlich wachsen, dich mit niemandem einlassen und schon gar nicht verknallen. Ich les mal vor. Notfallmaßnahmen: Anmeldung für zwei Golfturniere mit Ziel Handicap vierunddreißig, Anmeldung für den Marathon in Berlin –«
»An meinem Handicap arbeite ich schon, das kann man streichen.«
»Keinen Alkohol, keine traurige Musik. Zwei Wochen lang um sechs –«
Ich reiße ihr den Zettel aus der Hand, zerrupfe ihn und werfe die Schnipsel in die Luft. »Das ist ja peinlich.«
»Hey! Das Wichtigste stand unten –«
»Sich durch Regeln einzuengen, wie dumm ist das denn! Ich habe meine Einstellung modernisiert, sozusagen.«
Charlottes eisblaue Augen verengen sich. »Musst du auch die Freiheit und den inneren Frieden modernisieren, die dir so wichtig waren?«
»Nein, aber ich muss dazu nicht wie eine Nonne leben, oder? Regelmäßiger befriedigender Koitus fördert das innere Gleichgewicht und gehört zur Gesundheitsvorsorge einer modernen Frau.« Ich nehme zwei Kuchenteller mit Zwiebelmuster aus dem Büfett, stelle sie auf den Tisch und lege die Apfelstrudel darauf.
»Bevor du auf deinen komischen Berg gegangen bist, wolltest du aber genau das tun.«
»So ist das halt, Charlie, wenn man Dinge überdenkt.« Ich lege die Apfelstrudel auf die Teller. »Und jetzt setz dich.«
»Gut, wie du meinst. Ich habe getan, worum du mich gebeten hast. Jetzt erzähl mal.« Charlotte weiß, wenn ich sie Charlie nenne, werde ich langsam mürrisch. Sie schenkt uns Kaffee ein.
»Wir waren beide in einer Superposition.«
Charlotte verdreht die Augen.
»Das ist ein Begriff aus der Quantenphysik. Fred muss darüber referieren, sonst wüsste ich das auch nicht. Das ist eine Überlagerung zweier –«
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