Die Morgensonne lugt gerade über die Baumspitzen und blendet mich. Ich schirme die Augen mit der Hand ab. Keine Spur vom Auto oder von Fred. Ich trappe die Stufen hinunter und überlege, den Rover zu nehmen. Genau in diesem Moment taucht der Skyliner hinter den ehemaligen Ställen auf. Er braust auf mich zu und kommt einen Meter vor meinen Füßen zum Stillstand. Fred streckt den Kopf zum Fenster hinaus und grinst mich frech an.
»Das ist kein Rennwagen«, sage ich, »darüber werden wir uns noch unterhalten.« Natürlich wissen wir beide, dass diese Unterhaltung niemals stattfinden wird. »Steig bitte aus, ich muss los. Hardy hasst Unpünktlichkeit, du kennst ihn doch.«
»Okay, aber bist du wieder da, bevor es dunkel wird?«
»Wohl kaum.« Ich taste nach dem Hebel, um den Sitz zu verstellen und steige ein.
»Schade. Ich wollte noch eine Runde mit Richie drehen.«
»Nehm doch den Rover.«
»Der ist aber langweilig. Willst du deine Handtasche auf dem Dach lassen?« Fred reicht sie mir durch das Fenster. »Und kannst du noch irgendwo Eier und Bananen besorgen? Das hast du gestern vergessen und morgen ist Sonntag. Du weißt schon, damit ich groß und stark werde.« Fred hebt seinen Arm und küsst seinen Bizeps.
»Meinetwegen. Und ich weiß, dass morgen Sonntag ist.«
Der Schnee stiebt hinter mir auf, als ich das Gaspedal durchtrete.
Im Stechschritt eile ich auf den Ausgang des Einkaufszentrums zu, Eier und Bananen unter den Arm geklemmt. Ziemlich sicher werde ich zu spät zur Verabredung mit Hardy kommen, und trotzdem drossle ich mein Tempo, denn da ist diese Gestalt an der Delikatessentheke.
Er starrt auf die Oliven hinter der gewölbten Glasscheibe. Er trägt einen anthrazitfarbenen Wollmantel und aus seiner linken Faust baumeln die Finger eines Lederhandschuhs. Auf dem tiefen Braun seiner Haut liegt ein goldener Schatten; sein Haar ist kurzgeschoren, als wäre er beim Militär. Er ist hochgewachsen. Wie sind wohl seine Augen? Bernsteinfarben wie Tigeraugen? Ich werde langsamer. Was soll das, Sofia!
Er dreht sich um. Unsere Blicke treffen sich und aus dem Ozean der Zeit löst sich die eine Sekunde, die alles verändern wird.
Ein gleißender Strahl dringt in mich und bringt Licht in die Dunkelheit meiner Seele, die ich in diesem Augenblick spüre wie seit Ewigkeiten nicht mehr.
Das ist nicht gut. Gar nicht gut.
Er blickt mich vollkommen ernst an und strahlt zugleich eine unbezähmbare Energie aus. Seine Augen schreien.
In der ersten Sekunde dringt sein Blick tief in mich hinein, bis in den hintersten Winkel meiner Kammer, in dem die Sehnsucht hockt, bewacht von Angst.
Ich sollte wegschauen, stattdessen erwidere ich seinen Blick und sehe darin einen wunderschönen Abgrund – einen, der mich willkommen heißt.
In der zweiten Sekunde verschmelzen der Fremde und ich. Ich bin chancenlos. Meine Kopfhaut prickelt. Meine Lippen glühen.
Ich sehe ihn über mir, spüre seinen Atem auf meiner Haut. Seine Zunge leckt um meinen Nabel, schlürft mir einen Tropfen Sehnsucht daraus und füttert mich wieder damit. In dem Dunkel meiner Kammer wächst eine Blume. Ihr Duft raubt mir den Verstand.
In der dritten Sekunde fühle ich mich berauscht. Es ist eine Sünde, an ihm vorbeizugehen. Aber es wird doch nicht mehr getanzt, nicht wahr? Nicht wahr, Sofia? Hörst du? Die Absätze meiner Stiefel hallen wie Hilfeschreie auf dem Boden.
Es sind nur noch wenige Schritte zum Ausgang.
Gleich ist es vorbei. Gleich ist es vergessen.
Die doppelte Glastüre wird sich in der Mitte spalten und zwei Welten voneinander trennen, sobald sie sich hinter mir wieder schließt.
Die Lichtschranke über der Tür erfasst mich. Ich bleibe stehen und drehe mich ein letztes Mal um.
Sein Blick schießt wie zwei Harpunenspitzen durch die Narben uralter Wunden, meiner Wunden, und ich fühle einen heißen Stich.
Die zweite Tür öffnet sich. Jemand rempelt mich an und eine Bassstimme dröhnt über mir: »Passen Sie doch auf!«
Das alles muss nicht passieren, rede ich mir ein, eile hinaus ins Freie, auf den Parkplatz und zu meinem Auto, das mir wie eine Rettung erscheint. Obwohl ich sprinte, ist mir, als falle ich in die Tiefe. ›To fall in love‹, genauso ist es.
Ich stelle den Einkauf auf den Boden neben das Auto und öffne die Beifahrertür. In meiner Brust hämmert es. Kehr um. Kehr um. Und eine seidenfeine Stimme flüstert: ›Steig ein‹. Sie sagt: ›Fahr weg‹.
Doch jetzt sagt sie nichts mehr, denn ich fege sie beiseite, wie alles andere auf dem Beifahrersitz: Kräuterbonbons, Kleingeld, Tankbelege, Büroklammern, ein einzelner Ohrring. Ich klappe das Handschuhfach auf und finde einen Kuli. Auf einem Kassenbon notiere ich meinen Namen und meine Telefonnummer und: ›Do you like coffee?‹
Mit Riesenschritten strebe ich wieder zurück Richtung Markt und erstarre, als er mir entgegenkommt.
Er trägt keine Uniform, bewegt sich aber genauso, nur geschmeidiger. Bei jedem seiner weiten Schritte weht sein Mantel auf. Mit der blaugetönten Nickelbrille, mit der er seine Augen verhüllt hat, sieht er verboten gut aus.
Er bleibt vor mir stehen und nimmt sich in einer nonchalanten Bewegung die Brille von der Nase.
In diesem Moment perlt die Aufregung wie von einem Schirm von mir ab. Ich hebe meinen Blick.
Sein Gesicht zeigt keine Gefühlsregung, doch seine Augen schimmern wie dunkler Whisky vor einem Kaminfeuer.
Ich liebe Feuer. Ich liebe Whisky.
Wieder dringt sein Blick in meine Welt, und er sinkt wie ein Anker tief und tiefer – ins Supertief.
Die Zeit dehnt sich wie ein endloses Aum und schrumpft einen Moment später auf einen winzigen Punkt zusammen: diesen Augenblick.
»Das hast du verloren«, sagt er auf Englisch und reicht mir meinen Lederhandschuh. »Du hattest es ziemlich eilig.« Seine Stimme ist tief und samtig weich.
»Oh. Danke«, antworte ich, ebenfalls auf Englisch, und nehme den Handschuh so, dass ich seinen Daumen und Zeigefinger berühre.
Er streckt mir seine Hand entgegen. »Jeff Runner, how do you do?«
Ich lege meine Hand in seine. »Sofia Sanders. How do you do?«
Sein nicht überschwängliches Lächeln wirkt unterkühlt, jedoch grandios auf seinen Lippen, die mich an reife Kirschen erinnern. Süße Kirschen, zum Hineinbeißen.
Knallrot leuchtende Buchstaben tauchen vor mir auf: K u s s. Ich lecke mir über die Lippen. Mein Mundraum ist ausgetrocknet und heiß wie im Innern eines Ofens.
Er löst seine Hand, und sofort fehlt sie mir.
Schließlich sprudeln die Worte heraus, als hätte jemand zwei Hähne gleichzeitig aufgedreht.
»Möchtest du –«, beginnt er.
»Ja, ich wollte dir eben –« Ich fummle den Zettel aus der Jackentasche und reiche ihn ihm.
Er betrachtet ihn und ich sehe, wie das Stück Papier in seinen Fingern flattert.
Als er wieder hochsieht und sich unsere Blicke treffen, ist der Glanz aus seinen Augen verschwunden. Ich schlucke.
»Vielleicht hast du ein paar Minuten Zeit für –«, sagt er.
»Ich bin verabredet … zur Messe … leider.« Ich wedle mit dem Arm in nördliche Richtung und ein Teil meiner Ruhe verfliegt mit dieser Geste. »Vielleicht morgen?«
»Morgen habe ich Dienst. Ich arbeite in den Kelleys.« Er deutet zum Flughafen, jenseits dessen sich die Kelley Barracks befinden, Militärstützpunkt der US-Streitkräfte. »Aber am Montag hab ich frei.«
Bevor ich antworte, zähle ich im Geiste von einundzwanzig bis dreiundzwanzig. »Montag … sollte klappen.« Ja, denn ich würde alles absagen am Montag, selbst ein Rendezvous mit dem Ex-Präsidenten Obama. »Jetzt muss ich aber los, sonst komm ich zu spät.«
»Ich ruf dich an.« Er reicht mir seine Hand zum Abschied.
»Okay, Mister Runner.« Ich drehe mich um und wandle wie benommen zu meinem Auto zurück. Immer wieder murmle ich seinen Namen. Jeff-Jeff-Jeff. Er klebt wie Karamell auf meiner Zunge. Noch einmal drehe ich mich um. Er steht immer noch da und lächelt wundersüß.
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