»Warum? Mach doch mal eine Ausstellung dort. Ich würde dir auch helfen bei der Logistik und so. Ich war noch nie in Amsterdam.« Er flackert mit den Augenbrauen.
»Keine Drogen.«
»Ohne Scheiß, warum lässt du’s nicht mal krachen?«
»Weil ich dieses ganze Tamtam nicht gebrauchen kann. Ich will meinen Frieden. Vielleicht werde ich mit den Kiddies was auf die Beine stellen. Das müsste allerdings von langer Hand geplant werden. Frau Armbruster ist stockkonservativ.«
»Sie sind spät dran, Frau Sanders!«, tönt es tags darauf aus dem schuhkartongroßen Büro.
Der Versuch, mich an ihr vorbeizuschleichen, scheitert kläglich. »Ich hatte Probleme mit der Übertragung der Bilder von –«
Frau Armbruster schaut mich mit übler Montagmorgenlaune an, und ich winke ab. »Also mit der Technik … Entschuldigung.«
»Sie wissen, dass Sie nicht jedes Mal überziehen können.« Die Zungenspitze der Heimleiterin blitzt aus ihrem Mundwinkel hervor wie der Schlangenkopf aus einer Felsritze.
Drei Jahre habe ich gebraucht, ihren bissigen Ton einzuordnen. Er dient als Schutzschild, denn im Innern ihrer Seele ist sie höchst verletzlich, na ja, zumindest nehme ich das an. Außerdem will sie Autorität demonstrieren.
»Frau Sandäääärs!« Die Kinder schreien und klatschen in ihre Händchen, als ich den Werkraum betrete. Die meisten haben schon ihre Schürzen an und hopsen vergnügt im Kreis. Nur Saras Gesicht wirkt trotzig.
»Wir machen heute etwas ganz Neues.« Ich zeige die Bilder sowie eine Videoaufnahme des Adlers. Zwanzig Augen verfolgen seinen Flug.
»So einen werden wir machen, in ganz einfacher Form.« Ich lege das Tablet zur Seite und wickle die Feder aus dem Pergamentpapier. »Das hier ist eine ganz besondere Feder, eine Stoßfeder. Wenn ein Indianer im Kampf sehr mutig war, durfte er so eine in seinem Kopfschmuck haben. Manchmal müssen wir auch kämpfen, wie ein Indianer. Der schlimmste Kampf aber ist immer der, den man gegen sich selbst führt. Zum Glück steckt in jedem von uns ein Adler.«
Mit Riesenaugen schauen sie mich an und ich reiche die Feder herum.
»Wir sind keine quakenden Frösche, nicht wahr?«
»Nein, nein! Keine Frösche, keine Frösche!« Die Kinder jubeln und breiten die Arme aus, hüpfen und quaken.
Es wärmt mir das Herz, sie so ausgelassen zu sehen. »Lasst uns anfangen.« Ich klatsche in die Hände. »Wir haben noch viel zu tun und die Zeit hat auch Flügel, wisst ihr? Immer dann, wenn man sie am meisten braucht, flattert sie davon.«
Es sollte sich bewahrheiten und ich tue genau das, was ich nicht tun sollte, nämlich überziehen.
Ich stecke meinen Kopf, mitsamt schlechtem Gewissen in Frau Armbrusters Büro, um mich rasch zu verabschieden.
»Auf ein Wort, Frau Sanders.« Ihre knochige Stimme geht mir durch Mark und Bein. Mit theatralischem Blick späht sie auf die Uhr an der Wand. »Es ist 12.08 Uhr. Zum einen. Zum anderen: Sie wissen, wie sehr wir Ihr Engagement und Ihre Unterstützung wertschätzen, aber ich bin mir nicht sicher, wie ich Ihre … Ihre Ideen finden soll.« Bei ›Ideen‹ verzieht sie ihren Mund, als würde etwas Ekliges auf ihrer Zunge kleben. »Sie überfordern die Kinder und setzen ihnen Flausen in den Kopf. Dies ist ein Kinderheim und kein Motivationsworkshop.«
»Die Kids brauchen das aber.« Ich richte mich gerade auf. »Stärke und Unabhängigkeit sind tragende Pfeiler in einem Leben, und wie Sie schon angemerkt haben, ist es kein Zuckerschlecken. Man kann nicht früh genug damit beginnen.«
Frau Armbrusters Miene versteinert sich wie üblich, doch der erwartete Widerspruch bleibt diesmal aus. »Auf Wiedersehen, Frau Sanders. Bis nächste Woche.«
Rechts und links von mir wiegen sich die mit Schnee befrachteten Tannenzweige, und das Liliputsträßchen gräbt sich wie ein Korkenzieher in die bewaldete Talsenke zum Kleinod unseres Schaffens: der Zachersmühle. Sie wurde von Charlottes Mann in jahrelanger Kleinarbeit und mit viel Liebe umgebaut.
Charlotte steht in gebeugter Haltung vor der geöffneten Tür des Brennofens. Er steht in der Küche, die dadurch ständig überhitzt ist, im Winter ein durchaus willkommener Nebeneffekt.
Ihre Mähne fällt wie ein üppiger Vorhang vor ihr Profil. Heute keine ›Pocahontas-Zöpfe‹, wie sie diese gerne, trotz blonder Haare, bezeichnet.
»Guten Morgen, meine Liebe. Kann man den Ofen schon ausräumen? Hab zwei Kisten Schrühbrand im Auto, vom Kinderkurs.«
»Hallo. Kann man.« Sie richtet sich auf, und obwohl ich nicht klein bin, überragt sie mich noch um einen halben Kopf. »Wie war deine Exkursion? Ist alles nach Plan gelaufen?«
»Bestens. In zwei Tagen wird übrigens der Ton abgeholt.«
»Hast du auch einen Adler gesehen? Und … hat er dich gesehen?«
»Sehr witzig. Ich hab tolle Bilder gemacht und sogar einen Film, na ja, Filmchen. Aber hier …« Ich greife in meine Handtasche, hole die Holzschatulle heraus und öffne sie.
»Okay? Hast du die von dem Vogel persönlich bekommen oder von einem neuen Verehrer?«
»Gerrit hat sie mir geschenkt.«
Sie schlendert zur Spüle, dreht den Wasserhahn auf und wäscht sich die Hände.
»Der Wildführer, du weißt schon.«
»Wie wild genau ist er eigentlich? Hat er –?«
»Nein. Nein. Nein.« Bei jedem ›Nein‹ schüttle ich den Kopf.
Sie dreht das Wasser ab, nimmt das Handtuch vom Haken und trocknet sich gründlich die Hände. »Aber gegen flirten ist doch nichts einzuwenden, oder willst du dir das jetzt auch noch abgewöhnen?«
»Nein, Charlie, ich will mir gar nichts abgewöhnen, aber für Beziehungskram habe ich weder Nerven noch Zeit. Und nur mal so gefragt: Wann feiert ihr eigentlich silberne Hochzeit? Ich mein ja nur.«
Charlotte tritt ganz nah an mich heran. »Das ist genau der Punkt. Selbst ich flirte mehr als du.«
»Und was soll das bringen?«
»Es ist ein harmloses Spiel. Nett, aber ohne Bedeutung.«
»Nichts ist ohne Bedeutung unter diesem Himmel. Alles, was du tust, zählt. Alles, was du nicht tust, übrigens auch. Vielleicht zählt das sogar noch mehr.«
»Du solltest dringend lockerer werden.«
»Ich bin locker. Sogar sehr locker.«
Charlotte verdreht die Augen und stapft aus der Küche in die Werkstatt, und ich rufe ihr hinterher: »Du findest niemanden, der so locker ist wie ich. Niemanden! Hörst du?«
»Du wirst perfekt werden«, sage ich zu Amonia, und der warme Tonschlicker tropft wie Blut von meinem Finger, hinein in den Spalt zwischen Flügel und Körper. »Der wird nicht mehr abbrechen. Außerdem wirst du noch ein Männchen bekommen, meine Liebe. So ein majestätisches Exemplar, wie ich es auf dem Teufelskopf gesehen habe.«
Entgegen meiner Gewohnheit habe ich Arbeit mit nach Hause genommen. Somit kann ich das Trocknen der Tonschichten überwachen und Sorge tragen, dass der Flügel nicht wieder abbricht.
Ich blicke auf die Uhr: Mist. Hastig decke ich das riesige Adlerweibchen mit Folie ab und wusche ins Bad, um mein Make-up aufzufrischen. Anschließend suche ich mehrere Minuten vergeblich nach dem Autoschlüssel. Fred. Er hat wohl Wagen gekapert und sich über die westliche Veranda herausgeschlichen.
Ich schlüpfe in den gefütterten, sandfarbenen Wildledermantel und die dazu passenden Stiefel und trete hinaus auf die östliche Veranda.
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