»Das ist zwar keine Antwort auf meine Frage, aber lass mich eines sagen.« In Charlottes Augen funkelt Kampfeslust. »Gefühle werden meist überbewertet. Am Anfang immer.«
»Ah! Die Spezialistin spricht. Was macht dich nach fünfundzwanzig Jahren Ehe zur Flirt-Beraterin?«
»Vierundzwanzig.«
»Schön. Sag mir eins: Soll man deiner Meinung nach ganz allgemein auf Gefühle scheißen, oder gilt das nur für mich im Speziellen?«
»Das mit Matt kotzt mich echt an.« Sie verzieht den Mund und wirft den Mandelkeks in den Tee. Ein paar heiße Spritzer treffen meine Hand. »Diese Geschichte wird kein gutes Ende nehmen, das kann ich förmlich riechen.«
»Kopf hoch. Ihr findet einen Weg.«
»Davon gehe ich aus, aber ich sprach nicht von Matt und mir. Ich sprach von dir.«
Nach zwei Wochen der völligen Funkstille wieder ein Lebenszeichen von Jeff zu empfangen, versetzt mich in Hochstimmung. Die Frustration der letzten Wochen ist wie weggeblasen. Ich drehe mich wie ein Derwisch um meine eigene Achse und hebe beide Arme gen Zimmerdecke.
»Hast du getrunken?« Fred stolpert mit den gesammelten Werken seines schmutzigen Geschirrs zur Küche herein. »Es ist erst neun.« Er stellt den Tellerberg auf die Ablage und schaut mich mit großen Augen an.
»Schweig, o mein Sohn, und merke dir fürs Leben: Auch die Liebe kann trunken machen. Morgen werde ich nach Brüssel fahren.«
»Zum Ersten, eine Info: Ich war auch schon verliebt. Zum Zweiten: Wann kommst du wieder? Zum Dritten: Welches Auto nimmst du?«
»Ich fahre mit dem Skyliner und komme Sonntagabend zurück.«
»Yasa! Wäre besser, du würdest den Rover nehmen. Es kann Mitte März auch noch schneien und Belgien ist ‘ne Ecke weg.«
»Keine Chance.«
»Dann bau aber keinen Unfall. Die Ersatzteile müssen alle in den USA bestellt werden und sind teuer.« Er reibt seinen Daumen am Zeigefinger.
»Sei getrost, o mein Sohn. Dieses Auto ist für mich wie ein lebender Organismus und ich werde damit angemessen fahren.«
»Von wegen! Wenn du aufgeregt bist, fährst du wie eine Anfängerin.«
Ich überlege kurz und komme zu dem Schluss, dass er recht hat, und sage: »Das würde ich so nicht behaupten.«
Die Windschutzscheibe ist von Mücken schwarz gesprenkelt. Ich nehme die Abfahrt 22 auf die R5a in Richtung Mons-Est und verlasse diese wieder nach vier Kilometern. Im Kreisverkehr auf der Chaussée du Roeulx nehme ich die erste Ausfahrt auf die Rue Docteur Dewetz.
Einfamilienhäuser ducken sich hinter Bäumen und Mauern, von manchen sieht man nur das schwarz gedeckte Dach. Während die Reifen des Skyliners auf dem Asphalt der Chemin de Saint-Antoine flüstern, kreischen in meinem Kopf die Gedanken wie wilde Affen. Es ist kurz vor zwölf und nur noch achthundert Meter zum Ziel.
Wieder hoppe ich über einen der Bodenschweller und nach zweihundert Metern biege ich in die Rue Henri Dunant ab, eine Allee mit riesenhaften Birken. Ich stecke meine Nase zum Fenster hinaus und rieche Snobismus in seiner Reinform; selbst das Gezwitscher der Vögel kommt mir verhalten vor.
»Sie haben Ihr Ziel auf der rechten Seite erreicht«, tönt die Stimme aus dem Lautsprecher, und diese Tatsache spüre ich am ganzen Körper. Mein Blut quirlt in den Adern. Hier wohnt er also, oder sollte ich besser sagen: Hier residiert er?
Das Haus wird von einer übermannshohen Mauer umgeben und wirkt wie eine Festung. Der Eindruck wird noch verstärkt durch das wuchtige geschmiedete Tor, dessen Eisenstäbe mehrere Meter in die Höhe ragen und in Pfeilspitzen enden.
Nun passieren mehrere Dinge gleichzeitig: Während mein Handy die amerikanische Nationalhymne von sich gibt, öffnen sich die Flügel des Tores. Das Handy rutscht durch die Vibration von der Länderkarte hinunter in den Fußraum und ich strecke mich danach. Der Chor singt gerade inbrünstig ›stripes and bright stars‹ als ich über das Hörersymbol streiche.
»Sofia! Hallo, willst du nicht reinfahren?«
Und ob ich das will. Nachdem ich den Motor abgewürgt habe, starte ich ihn neu und zuckle im Schneckentempo durch das Tor und weiter auf der mit Muschelsand aufgeschütteten Auffahrt, auf das Haus zu. Ich fahre vorbei an Zypressen, deren Spitzen sich in luftiger Höhe im Wind wiegen, vorbei an einer riesigen Fächerpalme und einem Teich, an dessen Ufer filigrane Gräser einen Schutzwall um die Seerosen bilden. Auf der Wasseroberfläche schimmert das Blau des Himmels.
Ein unliebsames Bild poppt vor mir auf: Eine Unkraut jätende Gärtnerin im Vierfüßlerstand. Sie streckt ihren Po, der die Form eines Apfels hat, in die Höh. Jeff steht genau hinter ihr. Sein Mund ist leicht geöffnet.
In Wirklichkeit kommt er mit langen Schritten um die rechte Hausecke und wedelt mit dem Arm in Richtung einer Doppelgarage. Er trägt ein sandfarbenes Freizeithemd, das er lässig über der Hose trägt. Es flattert beim Gehen.
Fast hätte ich vergessen, wie groß er ist. Und wie konnte ich es nur so lange ohne ihn aushalten?
Das Tor öffnet sich. Jeff steht breitbeinig und mit verschränkten Armen da und beobachtet, wie ich hineinfahre. Toll! Zum Glück ist die Garage riesig und verzeiht mir meinen zu groß gewählten Einschlagwinkel. Ja, grins nur.
Jeff öffnet die Fahrertüre und reicht mir die Hand.
Jeff Runner, der Mann, bei dem alle Entspannungstechniken versagen, steht vor mir. Er umarmt mich und ich inhaliere seinen Duft, als würde mein Leben davon abhängen.
Gute Träume, schlechte Träume – alles löst sich auf.
»Du fühlst dich gut an«, flüstert er mir ins Ohr und krault mich mit den Fingerspitzen am Haaransatz im Nacken.
Es mag in der Garage kühl sein, aber mein Gesicht fühlt sich verdächtig warm an und in meiner Brust pocht es wild.
Bum di bum di bum. Für immer.
Bum di bum di bum. Und ewig.
Bum di bum. Macht mich dizzy.
Er macht einen halben Schritt zurück und betrachtet mein Gesicht wie ein Gemälde. Ich versuche mich an einem Mona-Lisa-Lächeln und schließe meine Augen.
Er haucht mir einen Kuss auf den rechten Mundwinkel und viele davon um die Kontur meiner Lippen, die vor Aufregung beben. Ich öffne meinen hungrigen Mund.
Seine Zunge schmeckt köstlich, und ich labe mich an dem Kuss wie eine Verdurstende. Er ist leidenschaftlich und weitet meine kleine Welt. Doch dann sind seine Lippen fort. »Lass uns ins Haus gehen, ja?«
Ich nicke und fühle mich benommen. War noch nicht bereit, den Kuss zu beenden.
Der Duft des Hauses schlägt mir förmlich ins Gesicht. Er erinnert mich an meine Waldläufe in den frühen Morgenstunden, wenn die Luft noch feucht und vom Duft des süßen Harzes geschwängert ist.
Jeff stellt die Reisetasche auf den Holzdielen ab, hilft mir aus der Jacke und verstaut sie in einer Garderobe, die sich hinter einer Front aus gebürstetem Edelstahl befindet.
Ich folge ihm drei Stufen hinunter in den Wohnbereich und blicke mich um. »Das ist also dein neues Zuhause.«
»Nicht mein Zuhause. Nur ein Haus.«
Ich schaue mich um. Bis zum Dachgiebel ist alles offen, und durch die gläserne Wand hat man einen herrlichen Ausblick in den Garten. Wenig Möbel. Ein Lederecksofa im Kubus-Stil, ein dazu passender Sessel, beides in schokoladenbraun und ein skurril anmutender Couchtisch. Der Fuß des Tisches war einst Teil eines Baumstammes, nun ragen zwei Edelstahlträger wie Arme heraus und stützen die daumenstarke Glasplatte. Ich schmunzle.
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