1 ...7 8 9 11 12 13 ...29 Die Fußgänger-Eisenbahnbrücke beim Markt; hin und wieder mit meinem Vater dort rauf, und dampflokbespannte Zuggarnituren schnauften und dampften an uns vorbei, und Schnellzüge nur noch selten. Einer hatte mit weißer Kreide auf die Sandsteinmauer der Wendeltreppe "CDU = NPD" gekritzelt; warum nicht "S..." – egal; die Strecke ist längst stillgelegt, und außerdem hat man die Aufgangstürme vor einigen Jahren zurückgebaut, aufgeschnittene Schneckenhäuser und folglich keine Versuchung mehr für Graffiti- , Sitten- oder Drogenverbrecher.
Ein Werbespot der FDP zu den 69er-Bundestagswahlen pries die sozialliberalen Reformen an den nordrhein-westfälischen Schulen. Da konnte ich bloß noch heulen vor Wut. – Im Sommer '69 – oder '70 erst? – sang ein Schulchor in der Aula zur Entlassung der Neuntkläßler "Blowin' in the wind", allerdings in der deutschen Fassung.
Die Unterführungen nahe der Schrebergärten: nicht selten träumte ich, mich dort nachts und völlig alleine wiederzufinden, und irgend etwas kam auf mich zu, dem ich nicht entrinnen konnte, bedrohlich wie die bleiche Reklamefrau am Gemäuer einer ehemaligen Großwäscherei, bedrohlich wie das Bestattungsinstitut mit dem Sarg in der Auslage, gleich an der Ecke, wo's gradaus zu den Unterführungen und linksrum zu Schule und Gärten geht. Den Sarg haben sie lange schon rausgenommen. Vielleicht läuft da jetzt ein Werbeband, elektronisch und mit Webadresse; bestattungshaus-ruhe-sanft.de, ruhesanft@hotmail.com.
1970. Eine verhärmte Junglehrerin, ich hatte ein wenig mit dem Nachbarn geplaudert, raus in den Vorraum, und nach der Stunde dann mit dem Schulheft rechts und links und rechts und links und rechts und links. Zum Glück war diese Frau so daneben, daß sich die Scham in Grenzen hielt. – Nicht besser unser Zeichenlehrer, der uns technisches Zeichnen lehrte und im hellen, modernen Zeichensaal einem Schüler eine blutige Nase schlug; das war wohl eher Angst als Scham, als er dann ohne ein Wort des Bedauerns seinem Opfer fürs Blut ein Tempo gab.
Mein Klassenlehrer ab der Siebten konnte sich kaum noch bändigen, als er das Wort "Pariser" hörte; ich hatte, allen Kondomen zum Trotz, noch nicht mal eine Vermutung. Die einzige ernstliche Rüge von ihm, an die ich mich erinnern kann, gab's mal in der Straßenbahn nach einem Ausflug in die Gruga; ein Mitschüler hatte sich auf der Drehgelenkscheibe erbrochen, und sicher, wie ich dachte, wegen zuviel Pommes frites, und ich hielt mir vorsorglich die Nase zu.
Fräulein Hertz war womöglich die einzige Lehrkraft mit einem gewissen pädagogischen Anspruch dort, na gut, vielleicht noch der Englischlehrer. Ein einziges Mal nur und eher ein Ansatz, "Schläge" konnte man das wirklich nicht nennen, und sicher noch nicht mal ganz unverdient; ich aber fand das unverschämt und sagte umgehend meinem Vater Bescheid und der vom Amt aus dem Fräulein Hertz, was die sich denn wohl erlaube, und dann hat sie sich auch noch entschuldigt. – Hatte er sich Arbeit aus dem Amt mitgebracht, half ich ihm schon mit vier oder fünf; Pappstreifen, Ordnergrün und -rosa, die ich nach Farben sortieren mußte. Einmal machte ich das nicht sorgsam genug, und er nahm mir die Pappstreifen aus der Hand und warf sie auf die gemaserte Platte aus damals noch weißem Bakelit vom selbstgezimmerten Nachkriegstisch, heute mein Wohnzimmer-Allzwecktisch. Vom Tapezieren abgesehen, da riß ich die alten Tapeten ab, und wirklich mit Begeisterung – half ich ihm später nie wieder? Schon möglich, doch wozu dieses Trauma-Geschwafel; in praktischen Dingen war ich der Fleißigste damals nun wahrlich nicht.
Auf dem Weg zum Schrebergarten kam mir ein älterer Junge dumm. Mein Vater zog sich ein paar Meter weiter eine Schachtel Peter Stuyvesant; als er die Gefahr bemerkte, eilte er herbei und verscheuchte den Jungen mittels einer kräftigen Ohrfeige, das war, zumindest in Nordrhein-Westfalen, so üblich wie völlig legal. Einmal stand er, wie angedroht, am Begrenzungszaun der Schrebergärten, tatsächlich nun zu kontrollieren, ob ich mich auf dem Pausenhof nun endlich mal zur Wehr setzen würde. Ich schlug so tatsächlich wie erstmals zurück und hatte fortan meine Ruhe. Er hatte sogar mit Prügel gedroht für den Fall, daß ich nicht zurückschlagen würde. Manchmal brachte er aus der Kantine ein Täfelchen Cadbury-Schokolade mit; Abend für Abend ließ er mich seine Mappe nach dieser Tafel durchsuchen, auch dann, wenn gar keine Tafel drin, was einer Pfeife rauchenden Psychotherapeutin mit einem weißen Opel Monza, die Praxis vis-a-vis zum FDP-Büro, sehr bedeutsam für alles, was folgte, erschien. – Täglich eine ganze Tafel? Von den handelsüblichen Größen gab es im Regelfall drei Einzelstücke, in Ausnahmefällen vier; bei sechs drohten ernste Gesundheitsschäden, war doch im Viertel eine Frau gestorben, weil sie täglich eine ganze Tafel verschlang. Ihre Leber, so sagten die Leute, sei ganz von Kakao verkrustet gewesen. Ich aß sogar rohe Schweineleber, und das mit größtem Genuß.
- Raus aus der Küche, zurück in den Flur, wo mich abends meine Schwester zu erschrecken pflegte und ich jedesmal wieder aufs neue drauf reinfiel, obgleich ich's doch wußte, daß sie es war, und beim Abbiegen in die sichere Küche nicht selten gegen den Türpfosten lief. Wohl ein einziges Mal nur auf ihrer Seite; ich ging aus Protest sogar mit in die Stadt, als sie dann wütend das Haus verließ; für einen Teenager sicher ein Bärendienst.
1967 die Rachenpolypen, diesmal in der Halsnasenohrenpraxis. Ein weißlackierter hoher Metallstuhl mit viel zu kurzer Rückenlehne. Und wieder eine Äthernarkose, nur diesmal viel zu schwach. Ich spürte den Druck der OP-Werkzeuge und sah Sterne, Monde und Satelliten, die sich mit großer Geschwindigkeit orange durchs tiefschwarze All bewegten. Diesmal war mein Vater mit, der ja nun gar nicht wissen konnte, daß es auch eine e rste Klasse, das Wartezimmer für Privatpatienten mit den großen beigen Ledersesseln und einer breiten Magazinpalette. Ein Bericht zur neuesten Herrenmode: Hosen mit aufgesetztem Schlitz, zum Schnüren, über Kreuz. Ich aber trug nicht mal "Nietenhosen"; ich war ja auch schlichtweg zu fett.
Man konnte ja nicht mal ins Kino mit mir, wie der erste und letzte Besuch bewies, "Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten", der wurde von Klaus Havenstein in "Sport, Spiel, Spannung" vorgestellt und fand allgemeinen Zuspruch. – Vorfilme aus dem Erwachsenen-Programm, irgendwas mit Zorro, und einer wurde gehängt. Das ängstigte mich nur mäßig, wußte ich doch von meiner Schwester, daß im Kino nicht selten Grausiges kam, und diese allem Grausigen zugetan, genoß sie doch heimlich am Imbißstand Pommes frites mit Mayonnaise – welche sie sicherlich wieder erbrach, weil man von Pommes mit Mayonnaise sich nun mal erbrechen muß , so jedenfalls die Leute. Und: sah es denn nicht schon so ähnlich aus, und roch es denn wesentlich besser?...
- Schon nach wenigen Minuten naß. In einer Nebenszene ging es um Röcke, und, vieldeutig grinsend, sagte einer der Piloten, er habe auch schon gesehen, was drunter sei. Was ich gesehen, war im Sportunterricht und sah wie eine Miesmuschel aus, und Muscheln war nicht zu trauen, verzehrte doch meine Schwester solche, wie bei den Pommes schlicht ignorierend, wie schnell man durch so etwas krank werden kann.
In Sport ein Neuer und bei dem eine Fünf. 1970 wieder ein Neuer, der drohte mit einer Sechs und brüllte herum in gebrochenem Deutsch, ein Ungarnflüchtling und demzufolge ein Feind des Sozialismus; wir konnten's doch sehen, in der Sechsten wohl schon, im schulischen Pflichtfilm zum Ungarnaufstand, wie gewalttätig dieser Pöbel war. – Ein FWU-Film? Die Filme zu Erd- und Heimatkunde sah ich ausgesprochen gern, da hatte der Westen was Magisches, zumindest was Atmosphärisches.
- Sport, Spiel, Spannung: '69 ein Trainingsanzug mit vier weißen Streifen statt der üblichen drei und ein damals gebräuchliches Trimm-Dich-Rad, eine Liegestützhilfe, wenn man so will, welches man vor- und zurückrollen mußte und hierdurch in sensationell kurzer Zeit sämtlichen Bauchspeck verlieren sollte. Die Werbung versprach freilich viel, die versprach auch den/das Zauberradiergummi, einfach über das Tintenwort ziehen, schon ist es verschwunden wie eben der Speckbauch nach regelmäßigem Rädern. – Kein einziger Millimeter. Hätte ich beizeiten gelernt, was man sonst noch so alles fürs Wohlbefinden vor- und wieder zurückrollen kann...
Читать дальше