1 ...8 9 10 12 13 14 ...29 - Lernte ich aber nicht, obgleich es doch auch auf diesem Gebiet einen vielversprechenden Frühstart gab: Ich stand im Traum am Ruhrstädter Bahnhofsvorplatz und wollte den roten Bahnbus nehmen mit den großen grauen Doppelreifen. Den nahmen wir nie, wohin denn auch, wen hätten wir denn besuchen sollen, mal abgesehen von den Urlaubsbekannten aus Heidetal bzw. Wattenscheid, doch da nahmen wir stets den Zug, diese bahnroten Nahverkehrs-Gliederzüge, ähnlich einem Trans-Europa-Express. Die hatten schmale Kurbelfenster, und einmal, der Zug fuhr gerade an, da kurbelte ich diese Scheibe hoch und hätte mich fast enthauptet. Zum Glück hat's keiner bemerkt.
Die elfenbeinfarbene Innenseite der Wattenscheider Straßenlaternen: ob man das wie Kerzenwachs mit den Fingernägeln herauskratzen kann? Der Hausherr hatte eine umfangreiche und wohl ziemlich wertvolle Briefmarkensammlung, die ich mit großen Kinderaugen und äußerster Vorsicht bewundern durfte; stets schenkte er mir ein paar Exemplare, und einmal hegte ich gar die Hoffnung, er hätte mir jetzt versehentlich den 8-Pfennig-Fehldruck Heuss überlassen, was aber – leider? – ein Irrtum war.
Ein Irrtum auch die Annahme, daß der Vergleich im Urlaubszug gegenüber fremden Mitreisenden – "Sie sehen aus wie Adolf Eichmann" – stets Heiterkeit erzeugt. Der erste Verglichene hatte sich noch ganz köstlich amüsiert, und was immer der zweite auch gesagt haben mag – meinem Vater war die Sache so peinlich, daß er mir diesmal eine Ohrfeige gab, und soweit ich noch weiß, eine kräftige. Schmeichelnd hingegen die Ähnlichkeit, die ich meiner Mutter zur Queen attestierte, und so war es freilich nur angemessen, daß sie irgendwann eine Schleudertrommel der britischen Firma Hoover besaß, mit der, laut aufgestanztem Blech, auch die Queen ihre Wäsche zu schleudern pflegte.
- Zurück zum Traum. Der Bus hielt an und klappte seine Vier-Elemente-Türen auf. Zwar stand ich im Haltestellenbereich, jedoch ein wenig abseits, und mußte mich nun beeilen; der Bus aber schloß seine vier Elemente und fuhr demzufolge ohne mich ab. – Was daran nun erwähnenswert? – Nun, daß ich stets bei der Abfahrt erwachte und hierbei einen Orgasmus hatte, genauer, einen multiplen. Das ist bei Jungs total normal und so häufiger wie angenehmer als die sogenannte "Schlafparalyse", bei der man in der Aufwachphase sich weder bewegen noch atmen kann. Ich war wohl gerade mal fünf oder sechs, als es mit diesen Träumen begann; sie hörten so etwa mit zehn wieder auf und kamen leider nie wieder. Da träumte ich höchstens, nun im eigenen Zimmer, vor dem Einschlafen kurz noch von Doktorspielen. – Zum Abschluß immer ein Niesen, und leider eben: nur .
- "1968": in Ruhrstadt ein bloßes Fernsehereignis; für die eigene rechte linke Gesinnung sorgten die Bücher aus der DDR; erwähnte man die in der Schule, wurde man seltsam angeschaut. Da war meine Mutter doch sehr erstaunt, daß ausgerechnet nun Frau Kraft, die so freundlich wie katholisch war, Bölls harsche Kritik an der Kirche lobte, Frau Kraft, die sogar die Bar einer Frau aus der weiteren Nachbarschaft tolerierte, eine Bar "nur für Herren", wie Frau Kraft meiner Mutter und keineswegs kritisch gesagt haben soll; diese brachte Frau Kraft hin und wieder frische Blumen aus unserem Garten für ihren kleinen Hausaltar. Jedesmal war ich miteingeladen, lud sie zu ihrem Geburtstagskaffee. Da kamen auch Priester und Kapläne, das Zweite Vatikanum in der Hardenbergstraße, gelebte Ökumene.
Als sie uns erstmals in Wenden besuchten, durfte ich sie in ihrem Mercedes zur Heiligen Messe nach Norddorf begleiten. Doch gleich, ob im Norddorfer Kirchenneubau oder früher in ihrer Etagenwohnung: in Gegenwart des Ehepaars Kraft fand immer eine Heilige Messe statt. – Sie gingen zur Aschermittwochsbeichte und empfingen vom Priester das Aschenkreuz. – Nie hätte sie "irgendwas" geschenkt; zum letzten Geburtstag in Ruhrstadt sogar einen echten Rubin aus Ostafrika in schwarzgrünem Zoisitgestein; keiner sollte sich "Menschenfreund" nennen, dem Geburtstagsfeiern Sünde sind. Aus Spanien brachten sie mir ein Steinchen aus den Mauern der Alhambra mit. Ein lapisblau bemaltes Steinchen aus den Mauern der Alhambra: Das war Kunst, Kultur, Kulturgeschichte und so wenig meine Sache wie die Theologie (trotz Schauspiel und Ballett via Fernsehprogramm, zum Beispiel Dürrenmatts "Physiker", der mir nach diesem TV-Bühnenstück – meine Eltern renovierten wohl gerade die Küche – ein Zeitgenosse Shakespeares war, Shakespeare, der, wie meine Mutter erzählte, in geistiger Umnachtung starb, und folglich dessen Würdigung seitens der guten DDR und das sogar mittels Sondermarke mir nun doch ein ziemliches Rätsel). "Biedermann und die Brandstifter" wurde als unrealistischer Quatsch verworfen; lobens- und vorlesenswert hingegen die Weihnachtserzählung Truman Capotes, von dem ich schon in Ruhrstadt wußte, daß er der Autor von "Kaltblütig" ist, dem brutalsten Buch der Welt. – Und hätten sie diesem Sokrates statt Schierling einen Gurkensalat und hinterher ein Glas Wasser gereicht – ich liebe noch heute Gurkensalat - , und auch Fräulein Hertz hatte uns gewarnt, auf Gurkensalat ein Glas Wasser zu trinken, wir tranken zuhause eh nur Sprudel und kein Ruhrstädter Leitungswasser, das wurde nur zum Kochen benutzt; wer wußte denn schon, was im Ruhrgebiet da an Giftstoffen alles so drin war?...
Ein Geburtstagskaffee meiner Mutter. Die Herrennachtbar-Nachbarin hatte ihre Tochter mitgebracht; ein schwieriges Kind, wie die Leute sagten. – Sport, Spiel, Spannung? Wer weiß, was sie alles spielen wollte, als sie mich dann im Kinderzimmer auf die Sitzliegefläche der Schlafcouch warf, sich auf meinen Bauch zu setzen, mir aber freilich nichts Besseres einfiel, als verkrampft auf ein rasches Ende zu hoffen. Irgendwann sahen die Mütter nach dem Rechten und beendeten sogleich das seltsame Spiel, und doch mit gewissem Amüsement.
Einmal kam eine aus meiner Klasse mit zu mir nach Hause, eine aus der "Asozialensiedlung" nicht weit entfernt von den Schrebergärten, arbeitslose Bergarbeiter, und selbst wenn diese noch Arbeit, aber vier oder gar noch mehr Kinder hatten, ein Volk am Rande zum Asozialen, wie man so sagte am Lessingplatz, und dann mußte ausgerechnet Frau Kraft ihre Etagenholztreppe bohnern und mich geradezu, ja, beglückwünschend fragen, ob das meine Freundin sei. Das alles war nicht meine Idee, doch wie konnte es überhaupt so weit und wir uns derart nahe kommen und somit zu dieser "Heimsuchung" jetzt? Und dann zog sie in der Wohnung ihre Schuhe aus, die ist asozial, die baden doch nicht, die waschen sich nicht, die wechseln auch ihre Wäsche nicht; nun, meine Furcht war unbegründet, und doch, allein die Möglichkeit, und dann noch bei einem Mädchen...
In den Heidetaler Ferienhäusern endlich mal ein Junge in meinem Alter; der hatte sich auf der Liegewiese sein kleines Einmannzelt aufgebaut. Da schaute ich ab und an mal vorbei, wenn ich nicht gerade Pilze suchte oder oben in der Kiesgrube Steine. Nun wollte er mit mir Doktor spielen, und freilich, ich ahnte es: Frauenarzt, und legte sich auf die Luftmatratze, meiner Untersuchung harrend. Zum Glück, wie ich damals der Meinung war, schaute just in diesem Moment sein Vater bei diesem Zelt vorbei, dem ich sogleich berichten mußte, und freilich entsprechend moralisch entrüstet, was denn sein Sohn da vorhatte nun. Wie dieser sich dann gerechtfertigt hat, ist mir komplett entfallen. Und sicher, gewiß, der Vater verbot's, aber so, wie man, sagen wir, Süßes verbietet, und selbst das erst nach längerem Zögern.
- War die Ferienfreundschaft damit beendet, sein Einmannzelt tabu? – Nein, so heftig dann auch wieder nicht, doch bleibt die Erinnerung vage. Überall Hundertfünfundsiebziger. Das wußt ich ja nun, was das heißt...
Ebenfalls in diesem Sommer eine seltsame psychosomatische Störung, die auch heute noch auftreten kann: man sieht nur einen Ausschnitt scharf; das Drumherum bleibt schemenhaft. Hängt vielleicht mit der "richtigen", der organischen Fehlsichtigkeit zusammen. In der Karlsruher Sauna sagte mal einer, ich hätt schöne blaue Augen. In Berlin meinte einer, ich hätte schöne... nun, auch das ein Kompliment.
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