- Nadelbänder um die Oberarme. Die sollten ihre Lektion schon lernen, die Strolche, wie meine Mutter sagte, daß man sich nicht an Schwächeren vergreift. Ein Vertreter konnte meine Eltern überreden, mich für einen Judo-Kurs anzumelden, damit ich mich endlich wehren kann. Ich wurde in letzter Minute zur Bodenturn-Gruppe umgemeldet, ich kann mich an die Kerzenübung erinnern und an einen Mitturner, der Roger hieß und deutsch ausgesprochen wurde und daß ich mit ihm nicht sonderlich klarkam und er wohl auch nicht mit mir.
- Februar/März '68; für eine Woche nach Kamp-Lintfort ins Schullandheim auf dem Dachsberg. Mit dem Herbergsvater hämmerten wir Aschenbecher aus einer kleinen Aluminiumscheibe. Nicht wenige Jungen nutzten die Tage, im Schnellkurs das Verliebtsein zu üben. Einige waren schon älter, "Sitzenbleiber", wie man sagte; die rochen unangenehm erwachsen, hatten schon Haare untenrum und wußten bestimmt, was "Ficken" bedeutet, das Wort, das man immer häufiger jetzt, etwa an Bushäuschen, finden konnte. Ich verguckte mich, wenn auch nicht allzu heftig, in eine mit Haaren so kurz wie ein Bub und fragte, ob sie nicht meine Freundin... – Nicht wegen mangelnder Sympathie; ich war ihr einfach "zu dick".
Am Bahndamm ein Discountgeschäft, ein "Großhandel", wie man sagte; ein ehemaliger Luftschutzbunker, steile Treppen, schmale Geländer, fahles Neonröhrenlicht, das leckere Lakritzkonfekt und die nicht minder leckeren "Katzenpfötchen", vielleicht sogar ein "Mars" oder "Nuts" oder wenigstens doch ein "Milky Way". Und zitierte ich bei Tisch Tick, Trick und Track – "Lobe immer den Koch, ganz gleich, wie's geschmeckt hat" - , so war's freilich nur ein Scherz.
Im Schullandheim Etagenbetten. Einmal fand ich tatsächlich den Mut, auf ein freies Bett nach oben zu klettern, mit diesem Klaus aus der Nachbarschaft zu tun, was wir abends in meinem Bett dann nur allzugern wiederholten; keine Ahnung, was die anderen...
- Waren die alle vom Lessingplatz? Mag sein, aber was hieß das schon groß, höchstens, daß man nicht verprügelt wurde. Mit einem von denen hatte ich trotzdem mitunter nicht geringe Probleme, der wohnte da, wo die Heißmangel war, seine Mutter litt an Tetanus; die Leute sagten, sie habe sich beim Kartoffelschälen infiziert, ein winziger Schnitt, noch nicht mal geblutet, und gerade ja das ihr Verhängnis. Ich war mal mit meiner Mutter bei ihr wegen irgend so einer Rauferei und bewunderte ihren Palisanderschrank, obgleich Palisander doch eher Protz als wirklich Stil verkörpern tat, im Gegensatz zu unserem praktischen und damals modernen Wohnkleiderschrank von '67 mit Sapeli-Furnier, das sieht so wie Mahagoni aus und muß, wenn ich's so von der Seite betrachte, dringend mal wieder gereinigt werden, vor allem vom Nikotin, das gute, treue Stück, das im Gegensatz zu seinem heutigen Besitzer... – Eines Nachmittags fielen sie über mich her und drückten mich auf mein Bett, zogen mir die Hosen runter und fummelten dann da rum. Das war unangenehm und ungehörig, doch längst nicht so schlimm wie die Sache mit dem Zahn. Warum nun aber auch dieser Klaus, der doch eigentlich mein Freund sein wollte... – und trotzdem, das war nun nicht etwa das Ende unsrer erotischen Zweisamkeit, jedenfalls nicht im Schullandheim. Außerdem wußte ich nur zu gut, daß ich hier nicht so ganz unschuldig war, daß es zu diesem Übergriff kam. Wer vor Unbeteiligten Dinge tut, die vor solchen eher unüblich sind, der sollte sich nicht wundern, wenn diese das dann mißverstehn; in der Sauna sind die Regeln weit klarer. Doch solange nur alle die Klappe halten... – und nochmals: es gab Schlimmeres.
Auf der Ruhr, vielleicht war's auch bloß ein Kanal, trieben Industrieabwässer wie der Fichtennadelschaum im Samstagsbad. Der Alltag hätte also wieder beginnen können, wenn nicht... ja, wenn nicht einer vom Zimmer, einer der "Täter" noch zudem, der Wahnidee verfallen wäre, die ganze Geschichte seinen Eltern zu beichten, ohne nun freilich sich selbst zu belasten.
- Die ganze , also samt Vorgeschichte? Darüber wurde nie ein Wort verloren. Leute aus der weiteren Nachbarschaft; seine Mutter erzählte es meiner Mutter beim Samstagseinkauf am Lessingplatz. Schon im Flur wurde ich zur Rede gestellt. Ich senkte den Blick und fühlte mich... schuldig? Mein Vater schwieg bis zum Mittagessen, dann wurde er, wie ich's nicht kannte, laut, und schlug mit der Faust auf den Küchentisch, als wollte er sagen, nun ist's aber gut, das sind doch schließlich nur Jungs. Ich aber spielte das Opfer jetzt und zitierte und mit gebotener Abscheu einen Witz, den dieser Verräter erzählte, mit Stock und Wischmop irgendwas, und sie lachten, bevor dann auch sie sich empörten, meiner Empörung recht zu geben. Dieser Klaus aber, das war der Schlimmste von allen, doch hatten sie's mir ja schon immer gesagt, halte dich besser fern von dem, das ist kein guter Umgang für dich, schon gar nicht in den Tagen von Kolle und Dutschke und Bartsch und wie sie alle heißen mochten...
- Keine Schulprügel, keine Sanktionen. Episödchen, Anekdötchen, und ich stand dumm in der Gegend herum mitsamt meiner Mineraliensammlung, wenn einer fragte, was willst du mal werden. Nun... wäre das Corpus delicti so groß wie mein Gedächtnis – ich hätte die besten Chancen auf einen Dauerplatz im Guiness-Buch. Träfe hingegen die Umkehrung zu... – das wäre ja fast schon Alzheimer dann...
- Egal, verwirrt war ich so oder so; ich glaubte dem Opel Kadett meines Schwagers die angezeigten 160 Stundenkilometer. Ich mochte die Schweiz, und weil ich sie mochte, mußte sie sozialistisch sein. Die Kurzwellenspalte in der "Hör Zu" wies auf einen Wettbewerb der kubanischen Regierung hin; ein Aufsatz mit maximal 500 Wörtern zur Bedeutung der kubanischen Revolution für die Völker Lateinamerikas. Erster Preis war eine Reise nach Kuba. Ich schrieb mit annähernd 500 Wörtern, daß die kubanische Revolution den Völkern Lateinamerikas das Glück des Sozialismus gebracht. Wie konnte ich nur den mir wohlbekannten brasilianischen Faschismus vergessen? Die folterten, wie ich inzwischen wußte, ihre Opfer sogar an den Geschlechtsorganen.
- "Der weiß doch gar nicht, wo die Glocken hängen": eine dort übliche Redensart, die meine Mutter übernommen hatte, wenn sie in meiner Gegenwart mit meiner Schwester über intime Dinge sprach. Erst als deren wachsende Rundung nicht mehr zu übersehen war, klärten sie mich über diese auf (und freilich nur über den Sachverhalt), und waren erleichtert, daß sie's nicht mußten, weil ich's natürlich längst wußte.
Die Endstufe der schulischen Sexualaufklärung ein paar Tage vor Kamp-Lintfort: Zündschlüssel rein, doch nicht rum. Warten, bis es rieselt? – Noch '70 ging ich davon aus, daß Sperma etwas Körniges sei, so ähnlich wie Gemüsesamen; da wollte ich am Anfang der schulischen Aufklärung meinem Vater bei einer Gemüseaussaat mein Schulwissen nicht verschweigen, daß auch die Tiere Samen haben. Er ging nicht weiter darauf ein, nur: welcher Vater wäre in den 60ern in einer solchen Situation nicht in Verlegenheit geraten? Im Bertelsmann-Gesundheitslexikon stand auch nicht mehr, als daß das Glied herumkreisen müsse, bis aus der Scheide ein Gleitmittel flösse; das sogenannte "Vorspiel". Die Tafeln des Bertelsmann-Volkslexikons, ein Geschenk meines Schwagers zum achten Geburtstag, legten die Vermutung nahe, Männchen und Weibchen würden sich, vielleicht den Sammelbild-Seepferdchen ähnlich, mit den Rücken berühren oder verhakeln, und dann würde da irgendwas überspringen; zudem ließ dieses "Wunschkind"-Gerede die Möglichkeit einer Schwangerschaft auch ohne diese Vereinigung offen, und das sogar noch in Wenden.
Mein kinnbarttragender Englischlehrer engagierte sich öffentlich für die schulische Sexualaufklärung. Als er mal für einen Tag Urlaub nahm, dachte ich, um abends den Geschlechtsakt zu vollziehen, und freilich mit seiner Ehefrau; sagte doch das Bertelsmann-Gesundheitslexikon, Ausgabe '65 wohl, daß man sich den ganzen Tag darauf vorbereiten müsse, und daß schon ein einziges grobes Wort die Sache am Abend mißlingen ließe, was irgendwie freilich schon menschenfreundlich, bezogen jedoch auf Geschlechtsverkehr dann doch, ja, ein bisserl absurd. Auch in der Bücherei nichts zu finden, was mich hier wirklich nun weitergebracht. Sex als chirurgischer Eingriff: die Standardansicht noch heute.
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