Der samstägliche Brunch im „Dreizehn“ war sehr beliebt. Das vegane Restaurant im Herzen der Altstadt boomte praktisch seit seiner Eröffnung. Die beiden jungen Betreiberinnen verwöhnten die Geschmacksnerven ihrer Gäste ebenso zuverlässig wie preiswert. Für 13 Euro konnte man sich am Buffet die Teller füllen, so oft man wollte.
»Habt ihr reserviert?«, fragte die eine der beiden Zacharias, nachdem der sich erfolgreich bis zur Kassentheke vorgedrängelt hatte. Rings um ihn standen Hungrige jeder Altersgruppe mit einem Teller in der Hand und einer Mischung aus Gier und Vorfreude in den Augen. Aus Platzmangel spielte sich der Kampf am kalten Buffet in der Nähe des Eingangs auf ein paar Quadratmetern ab. Zacharias setzte ein entwaffnendes Lächeln auf.
»Reservieren ist doch was für Spießer. Ist ja genauso, wie sein Handtuch an den Pool legen, bevor die Sonne aufgeht.« Sie schnalzte mit der Zunge und verdrehte kurz die Augen.
»Tja — dann seht mal zu, ob die Spießer für euch noch einen Platz freimachen.«
»Zack, trödele nicht rum und steh den Leuten nicht im Weg«, sagte eine tiefe Männerstimme direkt neben seinem Ohr. Zacharias fuhr herum.
»Phil! Was machst du denn hier? Ich dachte, du bist am Hauptbahnhof und flüsterst den Teilnehmern deine Regeln ins Ohr.« Phil war einen Kopf größer als Zacharias, bezeichnete das schüchterne blonde Kraut auf seinen Wangen als Backenbart und trug wie immer ein bunt gemustertes Stirnband.
»Hombre! Erstens sind das nicht meine Regeln, sondern die der Polizei. Zweitens muss ich ja nicht alles selbst machen. Delegieren ist eine Kunst und die musst du beherrschen, wenn du ein großes Ding durchziehen willst. Und drittens hab ich wie jeder vernünftige Spießer rechtzeitig einen Tisch reserviert.« Phil nickte mit dem Kopf in Richtung des Nebenraumes, links von der Küche. Zacharias wurde von einem breitschultrigen, braungebrannten Jüngling unsanft zur Seite geschoben. Bevor Zacharias mosern konnte, fragte Phil:
»Du bist doch sicher nicht allein hier?« Zacharias war kurz davor, dem Jüngling seinen Ellbogen in die Seite zu rammen, besann sich aber eines Besseren und hob stattdessen seine Hand mit drei Fingern.
»Dann geht doch einfach mal ganz unauffällig zu meinem Tisch«, sagte Phil und schaffte es gleichzeitig, seinen rechten Stiefel wie zufällig auf einem Flipflop-bewehrten Fuß zu platzieren, der wie zufällig dem Jüngling gehörte.
»Ich geb dir ein Zeichen, wenn die Luft hier rein ist«, fügte Phil hinzu. Zacharias lotste Mel und Jocelyn, die draußen gewartet hatten, herein. Er hörte Phils tiefe Stimme, die sich so überschwänglich bei dem Jüngling entschuldigte, dass aus den breiten, braungebrannten Schultern die Luft entwich wie aus einem kaputten Schwimmreifen. Nach ein paar Minuten kam Phil mit zwei Tellern in jeder Hand an seinen Tisch.
»Ich denke, gegen Obst als Auftakt ist nichts einzuwenden.« Er stellte Melzick, Jocelyn und Zacharias einen Teller hin und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Aus der Brusttasche seiner Latzhose zauberte er vier Gabeln hervor und hielt sie in seiner kräftigen Faust über den Tellern.
»Erst der Name dann die Gabel«, grinste er in die Runde.
»Mel«, grinste Melzick zurück.
»Ah ja, du bist seine Schwester«, erwiderte er und wandte sich nach rechts. »Dann bist du …?«
»Jocelyn.«
»Schön, Jocelyn, du bist seine …?«
»Wir arbeiten zusammen«, kam Zacharias ihr zuvor und schnappte sich seine Gabel aus Phils Hand. Phil schmunzelte, sagte aber nichts dazu. Jocelyn vermied es, ihn anzusehen und konzentrierte sich auf ihren Teller, der mit Grapefruit- und Orangenstücken, Kiwi-Scheiben und blauen Weintrauben beladen war. Die anderen taten es ihr gleich und für ein paar Minuten herrschte gefräßiges Schweigen. Phil hatte in den letzten Tagen so viel reden müssen, dass er froh über die Stille am Tisch war. Melzick wartete einfach nur ab und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Zacharias hatte einen Bärenhunger und stibitzte eine Kiwi von Jocelyns Teller, die mit ihren Gedanken woanders war. Schließlich legte Melzick ihre Gabel hin.
»Glaubst du wirklich, dass da heute 5000 Leute kommen werden?«, fragte sie Phil. Der schob seinen leeren Teller zur Seite und beugte sich über den Tisch.
»Nach meinen letzten Informationen werden es noch mehr.« Er flüsterte fast. »Das wird die größte Demo in Augsburg seit dem Sommermärchen.« Jocelyn hob verwirrt den Kopf.
»Sommermärchen?«, fragte sie und Melzick registrierte, dass es sich überhaupt nicht akzentfrei anhörte.
»Die Fußball-WM«, erklärte Zacharias mit vollem Mund. Er aß wie immer sehr langsam. »Da war die halbe Stadt auf den Beinen und zwar jede halbe Stadt in Deutschland.«
»Fahnen und Transparente gab es da auch«, warf Melzick ein, »aber mir will einfach nicht einfallen, wofür die damals protestiert haben. Was war es denn bloß?« Jocelyn entging die Ironie. Sie wurde immer verwirrter.
»Lass gut sein, Mel«, sagte Zacharias. »Die Leute waren einfach nur begeistert, das ist alles.«
»Ich glaube, das verstehe ich nicht«, sagte Jocelyn, diesmal wieder in perfektem Deutsch.
»Da bist du nicht die Einzige«, brummte Melzick. »Und jetzt möchte ich wirklich wissen, woher du so gut …«, doch Zacharias kam ihr zuvor.
»Genau, ich möchte auch wissen, was es jetzt noch Leckeres gibt. Komm Jocelyn!« Er nahm ihre beiden Teller und stand auf. Jocelyn folgte ihm zum Buffet. Phil warf Melzick einen Blick zu.
»Du bist Polizistin? Zack hat mal so was erwähnt.«
»Du darfst ihn Zack nennen?«
»Wieso nicht?«
»Weil er es seiner großen Schwester verbietet.« Phil zuckte mit den Schultern und deutete kurz auf ihre hennaroten Dreadlocks. Bevor er etwas sagen konnte, hob Melzick abwehrend ihre Hand.
»Ich schlage vor, du machst keine Bemerkung über meine Haare, dann sag ich auch nichts über deinen Bart.« Phil grinste und hob ergeben beide Hände.
»Ok, ok, hast ja Recht. Deine erste Demo als Polizistin?«
»Meine erste Demo als Demonstrantin.« Phil nickte anerkennend.
»Ich geb dir einen guten Rat als alter Hase: Sei freundlich zu den Bullen.« Melzick warf ihm einen Blick zu und griff nach ihrem Teller.
»Ich kann nur freundlich sein, wenn ich satt bin.« Phil stand ebenfalls auf.
»Da haben wir ja was gemeinsam.«
Zweifel saß auf dem Boden und lehnte mit dem Rücken an seinem Bücherregal. Die Romane von Hemingway, Faulkner, Dostojewski und Tolstoi hatte er schon aussortiert. Auch die Gesamtausgabe von Georges Simenon, die ihm seine Frau vor vielen Jahren geschenkt hatte.
»Schließlich musst du wissen, wie Kommissare in anderen Ländern arbeiten. Und da du noch nie in Frankreich warst, dachte ich, du fängst am besten mit „Kommissar Maigret“ an.« Kurz danach war sie bei einem Banküberfall auf fürchterliche Art ums Leben gekommen. Er hatte keine einzige Seite von Simenon zu Ende gelesen. Ihre Stimme wisperte in seinen Ohren wie in einer Endlosschleife, sobald er nur ein paar Zeilen zu lesen versuchte. Schon lange spielte er mit dem Gedanken, die Bücher zu verkaufen und jetzt, während er die Umzugskartons zusammensteckte, war der Entschluss gefallen. In seiner neuen Wohnung war kein Platz dafür, redete er sich ein und wollte rasch sämtliche Bände in den Kartons verstauen, bevor ihm eine Ausrede einfallen würde. Nur seine Kunstbände würde er mitnehmen.
Durch so viele Entscheidungen erschöpft, blätterte er gedankenverloren in einem Buch über die russischen Realisten. Sein Blick fiel auf ein Gemälde Ilja Repins, das einen wüsten Haufen ausgelassener Kosaken darstellte, die dem türkischen Sultan einen Brief schrieben. Er starrte auf das trostlose Ambiente seines Wohnzimmers. Hatte er wirklich jahrelang hier gewohnt? Wie oft hatte er Gäste gehabt? Wie oft hatte ein Fest die Wände gewärmt? Wie oft hatte es gute Gespräche gegeben? Er konnte sich an kein einziges erinnern. Mit einem energischen Kopfschütteln verscheuchte er die trübseligen Gedanken. Er klappte die russischen Realisten zu. Dabei fiel ihm schlagartig sein Date ein. Er blickte auf die Uhr und sprang auf. Lucy durfte er nicht warten lassen.
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