Ich hoffte inständig, dass sie mich noch nicht bemerkt hatten. Aber zu spät. Sie hatten mich bereits gesehen. Sie blickten zu mir rüber und kamen schnell auf mich zu gerannt. „Los schnell, die müssen wir kriegen. Der werden wir mal ordentlich Angst machen, die kriegt jetzt eine Lektion verpasst“ rief eine von Judiths Schwestern. Ich bekam zuerst einen riesigen Schreck und dann Panik. Aber die großen Mädchen hatten mich bereits eingeholt. Ich konnte nicht mehr weg! Sie packten mich fest am Arm, schüttelten mich und warfen mich zu Boden. Dann schlugen und traten sie auf mich ein und beschimpften mich böse. Ihre Schläge und Tritte trafen mich überall. Einige der Schläge trafen mich auch am Kopf und viele andere sehr schmerzhaft am Körper.
Ich weinte, schrie und flehte sie an mich in Ruhe zu lassen. Eine von Judiths Schwestern packte mich und schrie mich voller Hass drohend an: „Wage es nie wieder unsere kleine Schwester anzusprechen, sonst schlagen wir dich tot du kleines Miststück!“
Danach ließen sie von mir ab, schubsten mich weg und schrien: „Hau bloß ab hier und lass' dich nie wieder blicken!“ Dann liefen sie lachend davon und freuten sich über ihren Triumph, den sie wie sie meinten, errungen zu haben.
Ich weinte und lief humpelnd, zitternd und noch immer voller Panik mit großen Schmerzen am ganzen Körper nach Hause. Meine Oma erschrak zutiefst, als sie mich sah. Ich blutete und hatte unzählige Schürfwunden, meine Haare waren zerzaust und mein Rock und meine ehemals weiße Bluse zerrissen und schmutzig. Oma versuchte, mich zunächst zu beruhigen, zog mir die kaputten und schmutzigen Sachen aus, versorgte meine Wunden so gut es ging und rief dann einen Arzt.
Wie sich nach der Untersuchung herausstellte, hatte ich Gott sei Dank Glück im Unglück gehabt. Ich hatte zwar einige sehr schmerzhafte Prellungen, eine Menge blauer Flecken, Hautabschürfungen, und in meinem Kopf hämmerte es. Aber nach einigen Tagen Bettruhe und Omas liebevoller Pflege durfte ich wieder aufstehen und nach einer weiteren Woche konnte ich auch wieder nach draußen zum Spielen.
Oma ermahnte mich vor dem Haus zu bleiben, damit sie mich im Auge behalten konnte. Und auch wenn sie mir das nicht eingeschärft hätte, wäre ich keinen Meter von unserem Haus weggegangen. Der Schock saß noch immer tief und ich hatte in den kommenden Tagen und Wochen Angst, weiter von der Haustür wegzugehen. Oma erzählte mir, dass Opa in der Zwischenzeit mit den Eltern von Judith und Babsi gesprochen und ihnen von dem unglaublichen Vorfall erzählt hatte. Sie würden mich in Zukunft nicht mehr belästigen.
Für mich hatte sich von nun an jedoch etwas verändert: Ich war noch ängstlicher, schreckhafter, misstrauischer und noch viel vorsichtiger auf der Straße geworden, wie vor dem Zwischenfall mit Judiths Schwestern und den anderen älteren Mädchen. Den Platz mit den Garagen mied ich für lange Zeit, denn ich hatte trotz der Beteuerungen meiner Großeltern, dass sowas nicht nochmal passieren würde, Angst dort wieder auf die großen Kinder zu treffen ... und auf die dicke Babsi!
Die hatte sich von den Ermahnungen ihrer Eltern jedoch nicht sonderlich einschüchtern lassen. Wenn sie mich auf der Straße traf und sich unbeobachtet fühlte, stellte sie sich vor mich hin und sagte feindselig: „Eines Tages kriege ich dich und dann kannst du was erleben weil du gepetzt hast.“
Ich bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen, drehte mich einfach um und lief weg.
Ein Mädchen steht im Walde…
Ja, es war nicht immer leicht für mich in diesen ersten Jahren in unserer kleinen Siedlung. Die dicke Babsi ließ kaum eine Gelegenheit aus, sich Gemeinheiten für mich auszudenken. Und sie zog sogar Jutta aus der Nachbarschaft mit herein, was mir besonders wehtat, denn ich mochte die 3 Jahre ältere Jutta, spielte gerne mit ihr und vertraute ihr. Doch eines schönen Tages sollte dieses Vertrauen zum ersten Mal in Frage gestellt werden ...
Es war ein wunderschöner warmer und sonniger Tag und ich spielte mit meinem neuen Ball, den Oma mir wenige Tage zuvor gekauft hatte. Da kamen Jutta, Babsi und noch zwei weitere Mädchen auf mich zu. „Wir wollen Verstecken spielen und wollten dich fragen ob du nicht Lust hast mit zu spielen. Je mehr wir sind desto lustiger ist es doch“ sagte Jutta und lächelte mich an.
Ich sah unsicher von Jutta zu Babsi. Doch dann nickte ich zögernd. „Na gut ...“, sagte ich. ‚Jutta ist ja dabei, dann wird schon nichts passieren‘ dachte ich mir und lief mit den Mädchen in Richtung Wäldchen. „Da macht es doch viel mehr Spaß sich zu verstecken“ rief Babsi.
Unsere kleine Siedlung war von einem herrlichen Waldgürtel umgeben und durch die vielen Spaziergänge mit Oma und Opa kannte ich den größten Teil des Waldes recht gut. Aber Jutta, Babsi und die anderen Mädchen liefen in einen Teil des Waldes, der mir noch nicht so vertraut war. Aber Jutta war ja dabei und ich versuchte tapfer, meine Angst abzulegen. „Wir verbinden dir die Augen, du zählst laut bis 20 und wir verstecken uns dann“ sagte Jutta und band mir ein Tuch vor die Augen, das sie vorher um den Hals getragen hatte.
Ich ließ es geschehen, zählte bis 20, nahm die Augenbinde ab und fing an zu suchen. Aber so sehr ich auch suchte, ich konnte nirgends eines der Mädchen finden. Da stand ich auf einer kleinen Lichtung und sah mich suchend um. Es war seltsam still um mich herum, denn auch auf mein Rufen bekam ich keine Antwort. Da beschlich mich ganz allmählich Panik und ich begann zu ahnen, dass sie mich alleine zurückgelassen hatten und längst weggelaufen waren.
Ich blickte hektisch um mich und versuchte mich zu erinnern, wo genau wir her gekommen waren, aber ich konnte es nicht. Mein Herz klopfte bis zum Hals und ich weinte vor Angst. Immer wieder rief ich laut nach Jutta und Babsi. Aber niemand antwortete.
Da kam plötzlich ein älterer Mann auf mich zu. Er hatte mich rufen hören und gesehen, dass ich Mutter Seelen allein mitten auf der kleinen Lichtung stand und weinte. „Na, hast du dich verlaufen?“, fragte er mich ruhig und freundlich lächelnd. Froh, endlich jemanden zu sehen, erzählte ich ihm, wie ich in den Wald gekommen war. „Da haben dich die älteren Mädchen einfach alleine hier zurück gelassen? Das ist aber nicht sehr nett“ sagte der Mann. „Weißt du was? Ich zeige dir den Weg aus dem Wald heraus und bringe dich zurück nach Hause. Was hältst du davon mein Kind?“ Ich nickte heftig mit dem Kopf und schnäuzte in das Taschentuch, das mir der freundliche Spaziergänger gereicht hatte. Niemand kann sich vorstellen wie froh und erleichtert ich war, ihn getroffen zu haben.
Meine Oma war sehr erstaunt als ich mit einem fremden Mann vor ihr stand. Aber er erklärte Oma was passiert war. „Ach du lieber Gott“ rief sie bestürzt und nahm mich in den Arm. Dann bedankte sie sich bei dem Mann, der sich dann verabschiedete und mit einem letzten Lächeln ging er.
Oma brachte mich in die Küche und deutete mit der Hand auf die Couch. „Jetzt setz dich erst mal hin und dann erzählst du mal was da passiert ist. Wie kommst du denn ganz alleine da in den Wald? Und wieso hast du nicht Bescheid gesagt bevor du gegangen bist?“
Da erzählte ich ihr wie Jutta, Babsi und noch ein paar ältere Mädchen mich dazu überredet hatten, mit in den Wald zu gehen, um mit ihnen verstecken zu spielen. „Jutta war doch dabei! Und da dachte ich, dass schon nichts passieren kann. Sie ist doch meine Freundin“ erwiderte ich noch immer sehr aufgeregt.
„Was?? ... Jutta war auch dabei? Und dann hat sie nicht auf dich aufgepasst und sich mit den anderen Kindern einen Spaß daraus gemacht, dir Angst einzujagen und dich ganz alleine im Wald zurück zu lassen?“ Jetzt war Oma richtig verärgert. Für den Rest des Nachmittags blieb ich zu Hause und ging nicht mehr nach draußen zum Spielen. Ich musste erst mal den Schreck und die Enttäuschung über das Erlebte verarbeiten. Ich hatte mich in die Sofaecke gekuschelt und drückte mein Lieblingskissen an mich. Ich grübelte, weshalb ausgerechnet Jutta bei dem falschen Spiel mitgemacht hatte. Wir waren doch Freundinnen und ich hatte ihr vertraut ...
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