Als wir an diesem Abend alle zusammen beim Essen saßen, war mein Erlebnis das vorherrschende Gesprächsthema. Auch Opa und Onkel Horst waren entsetzt und sehr erstaunt darüber, dass Jutta bei dem gemeinen Spiel mitgemacht hatte. „Das kläre ich gleich nach dem Essen. Ich gehe sowieso noch zu Lehmanns rüber, da werde ich mir das Fräulein gleich mal vorknöpfen!“, sagte mein Onkel verärgert. „Ich komme gleich mit und rede noch mal mit Babsis Eltern, die wohnen ja im gleichen Haus.“ Fügte Opa hinzu.
Mir wurde mulmig bei dem Gedanken, dass Opa mit Babsis Mutter reden wollte, denn ganz sicher wird Babsi dann wieder gemein zu mir sein wenn sie mich das nächste Mal sieht. „Opa ... was mache ich, wenn die Babsi mich wieder bedroht weil du mit ihrer Mutter gesprochen hast? Babsi behauptet dann wieder ich würde petzen!“ Ängstlich sah ich Opa an. „Die wird dir nichts mehr tun, keine Angst. Ich rede mit ihrer Mutter auch darüber. Du brauchst dir darüber jetzt keine Sorgen zu machen.“ Opa lächelte mir aufmunternd zu. „Es wird alles gut ... du wirst schon sehen!“ Da glaubte ich ihm und atmete erleichtert auf.
Und tatsächlich: In den nächsten Tagen und Wochen ließ Babsi mich in Ruhe. – Nur hin und wieder warf sie mir einen bösen Blick zu. Aber das machte mir nichts aus. Dann drehte ich mich um und ging einen anderen Weg. – Jutta hatte sich in der Zwischenzeit bei mir entschuldigt und mir versichert, dass sowas nie wieder vorkommt.
Jutta hatte ich verziehen, denn sie war ja eigentlich meine Freundin. Aber anderen Menschen gegenüber wurde ich nur noch misstrauischer. So schnell glaubte ich keinem mehr etwas. Ich bemerkte, dass es mir zunehmend schwerer fiel anderen zu vertrauen.
Trotzdem hatte die Zeit damals in unserer kleinen Siedlung auch viel Gutes und ist voller schöner Erinnerungen für mich und bis heute ein wertvoller Schatz. - Das Wertvollste und Beste von allem war jedoch die Güte und nie enden wollende Liebe meiner Großeltern, die immer für mich da waren, mich trösteten, sich mit mir freuten und mir mit unendlicher Geduld und Liebe alles beibrachten, was im Leben wichtig war.
So vergingen die ersten Jahre und das nächste große Ereignis in meinem Leben stand bald bevor. Meine Einschulung!
Bald bin ich ein Schulkind! ...
Ich war schon lang vor meiner Einschulung sehr aufgeregt und fühlte mich sehr erwachsen. Schließlich war ich schon fast 6 Jahre alt! Und das bedeutete, dass „der Ernst des Lebens“ bald losgehen würde, wie Oma immer sagte. Da die Schule direkt gegenüber vom Spielplatz lag, stand ich oft am Zaun und sah hinüber zu der Schule in die ich nun bald gehen würde. Bald ...
Es gab vor der Einschulung eine Untersuchung. Unter anderem wurde auch getestet, ob man schon geeignet war für die Schule, oder ob das große Ereignis erst im kommenden Jahr stattfinden würde.
Ich machte bei dem Einschulungstest zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem Rektor, den ich bis dahin nur vom Sehen auf dem Schulhof kannte und aus den Erzählungen meiner Großeltern. Er war, so erzählte mir meine Oma später, auch schon Rektor gewesen, als meine Mutter noch zur Schule ging. Er kannte also unsere Familie recht gut.
Eigentlich sollte meine Mutter ja mit mir zu diesem Termin gehen, aber sie war wie immer in der fernen Großstadt und hatte natürlich wieder einmal keine Zeit. Sie hatte Wichtigeres zu tun, als sich um die Vorbereitungen zur Einschulung ihrer kleinen Tochter zu kümmern. Stattdessen bat sie meine Oma mit mir dorthin zu gehen, denn nach ihrer Meinung war das ja nicht so wichtig, dass sie dafür extra nach Hause kommen musste. Es war wie eh und je: Meine Mutter interessierte sich nicht für das Leben und die wichtigen Ereignisse ihrer Tochter. Sie überließ lieber alles meinen Großeltern. Gott sei Dank, dass ich sie hatte ...
Der Rektor war ein groß gewachsener Mann, hatte weißes Haar, eine Brille auf der Nase und wirkte ein wenig streng. Er saß mir gegenüber hinter einem großen wuchtigen Schreibtisch. Er sah mich freundlich und aufmerksam an. Dann stellte er mir einige Fragen, die ich beantworten musste und er machte sich einige Notizen. Dann bekam ich einige kleine Aufgaben gestellt, in denen ich unterschiedliche Bilder einander zuordnen musste. Anschließend mussten wir noch in ein anderes Zimmer, wo ein Arzt im weißen Kittel und mit Stethoskop um den Hals wartete. Er untersuchte mich gründlich. Am Schluss lächelte er mir aufmunternd zu und meinte, dass alles in bester Ordnung sei, gab mir die Hand und schenkte mir einen Hampelmann, den, wie er mir erklärte, die Kinder in der 4. Klasse für die Erstklässler gebastelt haben. Jedes neue Schulkind bekam vor der Einschulung so einen geschenkt. Für mich war damit ganz klar: Das Abenteuer Schule stand nun unmittelbar bevor. Mein Herz klopfte laut und ich war sehr aufgeregt. Stolz ging ich anschließend mit Oma nach Hause, den lustigen Hampelmann fest an mich gepresst.
Wir hatten erst Frühling und bis zu meinem großen Tag Anfang September lag außerdem noch ein ganzer Sommer vor mir. Eine, wie ich damals fand, endlos lange Zeit. Aber meine Oma meinte dazu nur: „Genieße die Zeit bevor der Ernst des Lebens anfängt, diese schöne Zeit kommt nie wieder zurück.“ Das hatte sie schon einmal zu mir gesagt, vor gar nicht allzu langer Zeit. Ich verstand nicht, was sie meinte. Für mich konnte es nicht schnell genug September werden ...
Mit Herzklopfen dachte ich immer wieder an meinen 1. Schultag, der schon bald bevorstand und redete kaum noch von etwas anderem mit meinen Großeltern und mit meinen Freundinnen. Oma lächelte über meine Ungeduld und Vorfreude, sie verstand mich gut.
Immer wieder stand ich am Zaun vor dem Schulhof, wenn große Pause war, und schaute den in kleinen Gruppen zusammen stehenden Kindern zu, wie sie lachten, umher schlenderten und ihre Pausenbrote aßen. Eines der Mädchen sah oft zu mir rüber, wenn ich am Zaun stand, und winkte mir lachend zu. Wir kannten uns sehr gut. Es war Steffi, die ebenfalls Tür an Tür mit mir wohnte. Sie spielte auch oft mit mir, wenn sie Zeit hatte. Oh wie ich Steffi beneidete, weil sie schon in der 3. Klasse war. Aber bald, ja bald würde es soweit sein, und auch ich würde ein Schulkind sein!
Schöne, unbeschwerte Kinderzeit…
Aber vorher durfte ich Mutti dieses Jahr zum ersten Mal in ihrem neuen Zuhause in der Großstadt besuchen. War das aufregend. Ich versuchte mir auszumalen, wie es in Muttis Wohnung wohl aussehen würde, und ob es da auch Spielzeug für mich gab? Was würden wir wohl dort alles zusammen unternehmen? Tausend und eine Frage ging mir immer wieder durch den Kopf. Nicht so schön fand ich, dass meine Großeltern nicht mit mir zusammen zu Mutti fahren konnten. Aber Oma hatte mir erklärt, dass Opa arbeiten müsse und leider keinen Urlaub bekam, um mit in die Großstadt zu fahren. Schade ...
Dann war endlich der Tag da, wo Oma den kleinen Reisekoffer für mich packte und Mutti am Mittag kam, um mich abzuholen. Für mich war das sehr aufregend und ein richtig großes Abenteuer. „Such dir was zum Spielen aus was du mitnehmen willst. Und am besten nimmst du auch dein Malbuch und Buntstifte mit“ sagte Oma. ‚Aha‘ dachte ich bei mir. ‚Also doch keine Spielsachen bei Mutti – schade.‘ Mir schwante, dass es bei Mutti ganz anders sein würde, als ich mir das vorstellte. Und ich sollte Recht behalten…
Am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück ging die Reise los. Mit dem Zug in die große Stadt. Ich fuhr für mein Leben gerne Zug. Da gab es so viel zu entdecken und man konnte so herrlich die Nase an der Fensterscheibe platt drücken und die schnell vorbeiziehende Landschaft beobachten.
Mutti und ich fanden einen Platz im großen Waggon und natürlich wollte ich am Fenster sitzen. Uns gegenüber saß ein Herr, der uns freundlich anlächelte und Mutti beim Verstauen unseres Gepäcks half. Selbstverständlich knüpfte sie schnell Kontakt mit dem freundlichen Herrn und ich beobachtete sie dabei, wie sie sehr vornehm tat. Das befremdete mich, denn so kannte ich meine Mutti noch gar nicht. Während sie plauderten, sah ich lieber aus dem Fenster und bewunderte die Landschaft. Die Zeit im Zug verging wie im Fluge und dann waren wir endlich da.
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