Als es Schlafenszeit war, zog ich meinen neuen Schlafanzug an, den Oma mir gekauft hatte und fragte Mutti, wo ich denn schlafen sollte. Sie antwortete: „Du schläfst hier bei Mutti im Bett.“ Ich sah sie skeptisch an. „Und wo schläft der fremde Mann?“ „Das ist kein fremder Mann und er schläft neben Mutti auf der anderen Seite des Bettes. Jetzt stell dich nicht so an, der tut dir schon nichts!“ „Ich soll bei einem fremden Mann im Bett schlafen?!“ Ich sah sie groß an und fragte sie neugierig: „Oder ist das vielleicht mein Papa?“ Entsetzt sah Mutti mich an. „Nein, das ist nicht dein Vater. Und hör jetzt mit der dummen Fragerei auf!“ Mehr sagte sie nicht. Mit sehr gemischten Gefühlen legte ich mich in Muttis Bett und schlief Gott sei Dank bald darauf ein.
Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück ging es los und Mutti fuhr mit mir in den Zoo. All die vielen Tiere… Ich freute mich, hatte viel Spaß und war von diesem Abenteuer hellauf begeistert. Wir fütterten die Rehe und hinterher gab es für mich sogar ein Eis. - Das Zooabenteuer sollte jedoch das einzige Großereignis in meiner Urlaubswoche bei Mutti sein. Weder hatte sie Zeit mit mir zu spielen, noch nahm sie sich anderweitig Zeit für mich…
Trotz dass wir uns so selten sahen, gab es keinerlei weitere Erlebnisse in dieser Zeit, denn Mutti musste ja arbeiten und ich saß dann in dem Café an dem kleinen runden Tisch, wieder bewaffnet mit Malbuch und Buntstiften. Wenn ich sie fragte, wann sie denn mit mir spielen würde, hieß es: „Du wolltest doch immer hierher zu mir. Jetzt hast du deinen Willen und bist bei mir. Was willst du denn noch? Sei jetzt zufrieden und lass Mutti in Ruhe arbeiten und blamier mich bloß nicht!“ Ich war schon sehr enttäuscht, hatte Sehnsucht nach zu Hause, nach all meinen Freundinnen. Und draußen spielen durfte ich auch nicht. Das sei viel zu gefährlich wegen der vielen Autos hieß es.
Muttis Traumstadt mochte ich gar nicht. Zweimal nahm sie mich mit in die Stadt und in den nahe gelegenen Supermarkt zum Einkaufen. Das waren auch schon meine gesamten Ferienerlebnisse bei Mutti in der großen Stadt. Deshalb war ich auch heilfroh, als die Woche endlich rum war und sie mich wieder zurück nach Hause brachte.
Man war das schön, endlich wieder draußen zu spielen und zu toben, meine Freundinnen zu sehen, auf dem Spielplatz zu schaukeln und wieder in meiner vertrauten Umgebung sein zu können. Aber vor allem war ich sehr froh, wieder bei Oma und Opa zu sein. Das fühlte sich endlich wieder an wie zu Hause. Nein, bei Mutti in der großen Stadt hatte es mir überhaupt nicht gefallen. Das war für mich eine Riesenenttäuschung.
Und so begann meine einstige Sehnsucht nach meiner Mutter und einem Leben mit ihr ganz langsam zu schwinden. Nur selten fragte ich nach ihr und ich hoffte inständig, dass ich nie wieder in diese große hässliche Stadt und in Muttis neues Zuhause reisen müsste. Aber lieb hatte ich sie trotzdem noch.
Der letzte Sommer vor dem ‚Ernst des Lebens‘…
Der letzte Sommer vor meiner Einschulung war herrlich und noch heute kann ich mich an so einiges erinnern. Es war heiß draußen und Oma hatte morgens schon die graue Zinkwanne im Garten mit Wasser gefüllt. „So, jetzt lassen wir die Sonne draufscheinen, damit das Wasser heute Nachmittag nicht mehr so kalt ist. Dann kannst du ein bisschen im Wasser plantschen.“ Dabei sah sie mich lächelnd an. „Au ja!“, rief ich und freute mich auf dieses kleine Abenteuer. Ich liebte das Wasser. Natürlich gab es auch ein Freibad in unserer Stadt, aber das war zu weit weg und so hatte ich mein eigenes kleines Planschbecken und das fand ich toll und war zufrieden damit.
In der Zeit vor meiner Einschulung bereitete Oma mich auf den sogenannten Ernst des Lebens vor, indem sie unter anderem mit mir jeden Morgen das Einmaleins übte. Sie sagte immer: „Das musst du schon können, wenn du in die Schule kommst. Das ist wichtig.“ Und so lernten wir jeden Morgen beim Haare kämmen und bald konnte ich das kleine Einmaleins vorwärts und rückwärts aufsagen. Dann kam das große Einmaleins dran. Das war schon etwas schwieriger. Aber nach einer Weile konnte ich das auch. Meine Oma lobte mich auch gebührend dafür, und ich war ganz stolz.
„Glaubst du, dass sich Mutti auch darüber freut wenn sie kommt und ich ihr das erzähle?“, wollte ich wissen. „Darüber freut sie sich ganz bestimmt!“, antwortete meine Oma lächelnd.
Ich konnte es kaum erwarten, meiner Mutter diese große Neuigkeit zu erzählen, und malte mir in Gedanken aus, wie sie mich lobte und stolz auf mich war. Ja, ich liebte meine Mutti noch zu dieser Zeit trotz allem. Und ich wollte unbedingt, dass sie stolz auf mich war. - Nur… wann kommt sie denn eigentlich das nächste Mal zu Besuch? Auf meine Frage hin zuckte meine Oma bedauernd die Schultern und sagte, dass sie das auch nicht genau sagen könnte und dass wir warten müssten, bis sie das nächste Mal anruft. „Kannst du sie nicht mal fragen, ob sie zu meiner Einschulung kommen kann? Das wäre soooo toll!“, rief ich voller Begeisterung von dieser Idee. „Na, ich frage sie mal, wenn wir das nächste Mal telefonieren. Mal sehen ... vielleicht kann sie sich ja frei nehmen“ antwortete Oma.
Ja, inzwischen hatte sich der Fortschritt bei uns breit gemacht und wir hatten ein eigenes Telefon im Wohnzimmer und meine Mutter rief auch manchmal an. Und so hoffte ich, dass das Telefon bald klingeln, und meine Mutter sich melden würde.
Ich wusste, dass meine Oma ihr außerdem auch einen Brief geschrieben hatte, denn meine Einschulung stand bald bevor, und da gab es noch viel zu klären und zu organisieren. Außerdem hatte meine Mutter fest versprochen, rechtzeitig Geld zu schicken, damit meine Oma vorher die nötigen Dinge kaufen konnte, die ich zur Einschulung brauchte. Mein Opa verdiente damals nicht viel und so waren meine Großeltern auf das Geld, das meine Mutter für mich schicken sollte angewiesen.
Natürlich ließ es sich meine Oma nicht nehmen auch etwas zu meiner Einschulung beizusteuern. Sie kaufte mir meinen ersten Schulranzen, die dazu passende Butterbrottasche, eine Schiefertafel, den Griffelkasten mit Inhalt und die Kleidung, die ich an meinem ersten Schultag tragen sollte: ein rotes Kostüm mit einer weißen Bluse darunter. Und die Bluse hatte rote Punkte in exakt der gleichen Farbe wie das Kostüm.
Und nun wartete Oma jeden Tag auf das von meiner Mutter versprochene Geld. Denn eines der wichtigsten Dinge für meine Einschulung fehlte ja noch: Die Schultüte! Und auf die freute ich mich schon ganz besonders, das wusste Oma. Ich hatte im vergangenen Jahr nämlich an der Schule gestanden und die Kinder die eingeschult wurden beobachtet. Jedes Kind hatte eine schöne bunte und prall gefüllte Schultüte im Arm. Und bald würde ich genauso da stehen wie diese Kinder und auch ich würde eine große bunte, prall gefüllte Schultüte im Arm halten. Was da wohl alles drin sein würde? Bald ... ja bald…
In der Zwischenzeit hatte meine Mutter sich tatsächlich telefonisch bei meiner Oma gemeldet und ihr mitgeteilt, dass das Geld für die fehlenden Sachen zur Einschulung bereits unterwegs sei. Damit war sicher gestellt, dass meine Oma sich auch noch rechtzeitig um die heiß ersehnte Schultüte kümmern konnte. – Für ein paar kurze Worte mit mir am Telefon hatte sie aber leider keine Zeit. Sie ließ mich lieb grüßen und versprach bald zu Besuch zu kommen. Sobald sie Zeit hätte. – Ich war sehr enttäuscht. „Ach man… ich wollte Mutti doch erzählen wie gut ich das Ein mal Eins schon kann!“ Meine Oma tröstete mich.
Ich hoffte ganz fest, dass Mutti bei meiner Einschulung dabei sein würde… und schon war sie wieder da die Freude auf den ersehnten Tag! Bald war ich ein Schulkind! Ich war ganz sicher, dass meine Mutti dieses große Ereignis auf gar keinen Fall verpassen wollte. Denn eingeschult wird man nur einmal im Leben. Das hatte meine Oma selbst gesagt.
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