»Das Telefon geht nicht!«
»Das hätte ich dir sagen können. Wenn der Strom weg ist, kannst du damit auch nicht telefonieren.«
»Aber vielleicht will Lucy uns anrufen, und wenn sie uns nicht erreicht, macht sie sich Sorgen.«
»Wenn sie uns übers Festnetz nicht erreicht, probiert sie’s auf deinem oder meinem Handy.«
»Handy – du sagst es! Ich rufe jetzt mal den technischen Notdienst an. Holst du mir das Telefonbuch?«
»Schaue doch lieber im Internet nach, das geht schneller!«
»Halt, warte mal! Sieh mal«, sie hielt mir ihr Handy entgegen.
»Was bedeutet das Zeichen da oben?«
»Das bedeutet, dass du keinen Empfang hast.«
Anna nahm ihr Handy und lief die Treppe hoch und dann durchs ganze Haus. Aber in welchem Raum sie auch war, nirgendwo hatte sie Empfang. Ich zog mein Handy aus der Tasche. Auch ich hatte keinen Empfang. Ich ließ es dabei bewenden und packte alles Tiefgefrorene in eine Kühlbox, und legte unsere blauen Kühlakkus dazu, die sich glücklicherweise noch im Gefrierschrank befunden hatten, und brachte alles in den Keller. Lange konnte der Stromausfall bei uns in der Straße noch nicht her sein, dachte ich, denn der Gefrierschrank begann gerade erst, abzutauen. Nachdem ich alles, was schnell verderben konnte, so kühl wie möglich im Keller gelagert hatte, setzte ich mich wieder auf die Terrasse. Anna stand im Türrahmen. »Nichts«, sagte sie. Sie sah mich an. Sie erwartete eine Antwort von mir, aber das Einzige, was ich ihr bieten konnte, war ein trauriger Blick und ein Schulterzucken – beides war ihr nicht genug.
»Ist schon gut, bleib sitzen«, fauchte sie und lief ums Haus herum auf die Straße. Verdutzt sah ich ihr nach. Meiner Meinung nach konnte man außer Warten bei einem Stromausfall wie diesem nichts tun. Was, bitte schön, sollte man denn tun? Alle Elektriker und Telefonanbieter des Planeten verfluchend, kam Anna nach wenigen Minuten wieder mit schnellen Schritten über den Kiesweg zu mir, ihr Handy hielt sie wie eine Waffe in der Hand. Schnaubend stürzte sie an mir vorbei durch die Terrassentür ins Wohnzimmer. Erst hörte ich nichts, dann das Klimpern von Schlüsseln und dann, wie die Haustür ins Schloss fiel. Wow. Ich wollte nicht in der Haut desjenigen stecken, der am anderen Ende der Leitung war, sollte Anna tatsächlich jemanden von irgendeinem Not- oder technischen Hilfsdienst erreichen. Wenn Anna richtig aufgebracht war, war sie nur schwer wieder zu besänftigen. Auch Lucy ist manchmal so. Sie ist dann wie der tasmanische Teufel aus der Zeichentrickserie Looney Tunes und man geht ihr dann besser aus dem Weg. Die Sache beschäftigte mich. Und ich war neugierig, wo meine Frau hinwollte. Also stand ich auf und sah um die Hausecke. Ich sah nichts, also jedenfalls nicht meine Frau, dafür hörte ich ein unschönes Kratzen aus dem Getriebe des Clio und dann, wie sie mit quietschenden Reifen davonraste. Wo wollte sie hin? Hätte ich besser mitfahren oder ihr irgendwie meine Hilfe anbieten sollen? Mit schlechtem Gewissen setzte ich mich wieder in meinen Gartenstuhl und nahm mir die Zeitung, aber ich war unfähig, mich auf die Artikel und das Programm zu konzentrieren. Ich starrte in den Himmel und ertappte mich dabei, wie ich nach weiteren weißen Wölkchen suchte, die mir mitten im Spätsommer den ersten Schnee brachten. Ich verstand Annas ganze Aufregung nicht. Stromausfälle passieren eben, da muss man mit leben, auch wenn’s unangenehm ist. Aber ihre Nervosität hatte mich angesteckt.
Nero kam um die Ecke des Hauses geschlichen, das schwarze Fell von Lucys Kater glänzte in der Sonne. Er blieb stehen, streckte sich und gähnte ausgiebig. Dann funkelte er mich mit seinen grünen Augen an. Seine beiden vorderen Tatzen waren weiß, es sah aus, als habe er Stiefel an. Lucy nannte ihn Nero, ich nannte ihn lieber Anton, nach dem Schauspieler Antonio Banderas, der dem gestiefelten Kater in Shrek die Stimme geliehen hatte. Ich fand, das passte – Nero für einen schwarzen Kater war mir zu offensichtlich. Der Kater kam zu mir und strich mir zwei-, dreimal um die Beine, maunzte und verschwand dann durch die Terrassentür ins Wohnzimmer. Nach etwa einer Stunde kehrte Anna zurück. Komplett verschwitzt und ohne ein Wort zu sagen, ließ sie sich auf die Liege neben mir fallen und starrte ins Leere.
»Nicht schlecht«, sagte ich.
»Was?«
»Dein Start – mit quietschenden Reifen und so. Fährst du Lucy manchmal auch so in die Schule?«
Sie grinste.
»Manchmal«, sagte sie.
Ich sah, dass ihr eigentlich nicht zum Grinsen zumute war. Ihre kleinen, festen Brüste zeichneten sich deutlich unter ihrem verschwitzten T-Shirt ab. Wie warm sie sein mochten, wie heiß und wie salzig die Feuchtigkeit auf ihrer Haut wohl schmecken würde? Der Schweiß auf ihren Schlüsselbeinen glänzte und ein kleiner Tropfen rann links daran herab in ihren Ausschnitt.
»Woran denkst du?«, fragte sie mich.
»An dich«, sagte ich, und ich sah ihr an, dass sie mir nicht glaubte.
»Wo warst du? Ich habe mir Sorgen gemacht. Hast du deine Mutter erreicht?«
»Nein, habe ich nicht … Ich habe niemanden erreicht.«
Anna erzählte mir, dass sie durch das ganze Dorf gefahren war und sich anschließend auf den Weg in die Stadt gemacht habe. Bis in die Stadt waren es immerhin fünfzehn Kilometer. Sie sei dorthin gefahren mit der Hoffnung, irgendwo Empfang mit ihrem Handy zu haben. Das sei ja eigentlich nicht zu viel verlangt, meinte sie. Auf dem Weg dorthin habe sie mehrmals an der Straße angehalten, aber auf dem Display ihres Handys hatte sich nichts geändert. Zuerst war sie zu einer Freundin gefahren, doch dort öffnete niemand die Tür und Empfang habe sie vor der Tür auch keinen gehabt. Also war sie wieder ins Auto gestiegen und zur Tankstelle gefahren, um von dort aus zu telefonieren, doch Fehlanzeige, auch dort funktionierte nichts: kein Telefon, kein Strom, kein Sprit, rein gar nichts! Auf der gesamten Strecke, die sie zurückgelegt hatte, sah sie überall dasselbe groteske Bild: herumirrende Menschen auf den Straßen, die alle das Handynetz suchten. Seltsam hatten sie ausgesehen, irgendwie skurril, meinte sie. Wie moderne Rutengänger. Weil die Leute entweder tief über ihr Handy gebeugt gewesen waren oder es winkend nach oben gehalten hatten – so, als könne man mit dieser Geste den Empfang einfangen. Anna lächelte und schüttelte leicht den Kopf, als sie das erzählte. Wieder andere wären einfach so ohne zu gucken über die Straße gelaufen und hatten nur auf ihr Handy gestarrt. Smombies eben – seltsam, dass es so viele von ihnen gab, dass man eigens einen Begriff für sie erfunden hatte. Allesamt hätten sie verzweifelt ausgesehen, wie Kinder, denen man ihr liebstes Spielzeug weggenommen hatte. Und sie waren überall, die empfangsgierigen Smombies. Auf den Balkonen: Menschen mit Handys, sogar auf den Dächern hatten sie gestanden, und bei der Rückfahrt hatte sie um den Sendemast bei uns im Dorf eine riesige Traube verzweifelter Empfangssuchender gesehen. Sie meinte, es habe ausgesehen, als sei der Sendemast kein normaler Sendemast, sondern ein heiliger Ort wie der Tempel in Jerusalem, der Petersdom in Rom oder die Kaaba in Mekka. Einige Wagemutige habe sie sogar hinaufklettern sehen. Und auch der Straßenverkehr sei bedeutend mehr gewesen als sonst an einem späten Samstagnachmittag. Die Parkplätze der Restaurants und Fast-Food-Ketten seien überfüllt gewesen, und bei McDonalds hätten die Autos schon hundert Meter vor dem Restaurant in einer Schlange auf der Fahrbahn gestanden, sodass sie dort fast nicht habe vorbeifahren können – dabei gab’s da gar nichts zu essen. Kein Strom, kein Fast Food, so einfach ist das. Dann war ihr noch der Gedanke gekommen, ob sie nicht kurz bei der Polizeiwache anhalten solle, um dort zu fragen, was los sei. Aber beim Vorbeifahren habe sie vor dem Polizeigebäude eine so große Menschenansammlung gesehen, dass sie gar nicht erst angehalten habe. Sie wusste auch so schon, was geschehen war: In der ganzen Stadt war der Strom ausgefallen.
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