„Claus Pilles! Pilles vom Segelclub!“
„Vielleicht glaubt er dieses Jahr an das Versprechen der Angler und schaut nicht mehr nach dem Floß, weil er es längst als eingetütet abgehakt hat.“
„Jäger?“
„Kaum. Was wollen die an einem Badesee jagen?“, sagte Dirk. Und dann hielt er sich die Hand vor den Mund. Ihm war der Schreck in die Glieder gefahren.
„Vielleicht geht es weg“, hörte er Tanja sagen. Um ihre Lippen spielte ein trauriges Lächeln. „Vielleicht … ich meine … vielleicht lässt es uns in Frieden.“
„Vielleicht verirrt sich ein Bulle in die Gegend“, sagte Sven.
„Es bewegt sich“, rief Dirk.
Tanja sprang auf. Das Floß begann zu schwanken, und Tanja stieß einen Schrei aus. Sven ging zur anderen Seite und wartete, bis sich das Floß stabilisiert hatte.
Das Ding kam mit beängstigender Geschwindigkeit näher. Dirk erblickte die Farben, die Nicole gesehen hatte, ein fantastisches Rot und gelbe und blaue Spiralen, die sich in den Wellen brachen; die Farben flossen durcheinander, Dirk stand am Rande des Floßes, und er ahnte, dass er das Gleichgewicht verlieren würde, sein Oberkörper begann zu schwanken, er …
Mit letzter Kraft versetzte er sich einen Faustschlag auf die Nase; es war die Geste eines Menschen, der mit einem Hustenanfall kämpft, nur viel kräftiger ausgeführt und etwas zu hoch angesetzt. Durch sein Nasenbein zuckte ein stechender Schmerz, und er spürte das warme Blut, das ihm über das Gesicht rann. Es gelang ihm, sich einen Schritt zum Inneren des Floßes zu bewegen.
„Schau das Ding nicht an, Sven!“, schrie er. „Schau’s nicht an, die Farben machen einen schwindlig.“
„Es will unter das Floß kriechen“, sagte Sven grimmig. „Kannst du mir erklären, was die Scheiße soll, Pancho?“
Dirk inspizierte das Ding mit aller Sorgfalt. Es nagte wieder an der Längskante des Floßes. Es hatte wieder die Form einer durchgeschnittenen Pizza angenommen. Und es schien dicker geworden zu sein.
Und dann schob es sich unter die Bretter. Dirk war es, als wäre da ein neues Geräusch, es hörte sich an wie das Kratzen eines zusammengerollten Rollos, wie ein Rollo, der durch ein enges Fenster gezogen wurde, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.
*
Als Stella und ich uns von unseren Balkonnachbarn verabschiedeten, mag es eine Stunde vor Mitternacht gewesen sein – eine laue Sommernacht, wenn man in einer Stadt aus erwärmten Steinen zu Hause ist. Eine viel zu kühle Nacht, wenn man sie nur in Unterwäsche, verlassen auf einem Floß, auf einem See verbringen muss. Von jenem Ereignis wusste ich nichts, und so ging ich wie jeden Abend in mein Büro, um einen letzten Blick auf die eingegangenen Mails zu werfen und den Computer endlich abzuschalten. Ich weiß, Strom sparen sieht anders aus.
Mein Blick fiel auf einen Mailabsender. Es war Carla Reemtsma, die mir gemailt hatte:
Hallo Stefan Koenig,
ich schreibe dir heute mit klopfendem Herzen, auch wenn wir uns noch nicht persönlich kennen. Ich bin Carla, 23 Jahre alt und Aktivistin für Klimagerechtigkeit bei Fridays for Future. Als Pressesprecherin der Bewegung bin ich es gewohnt, öffentlich zu sprechen. Aber jetzt bin ich aufgeregt: Noch nie war unser Protest so wichtig wie jetzt. Denn mit der kommenden Bundestagswahl stehen wir vor einer echten Schicksalswahl.
Uns bleiben nur noch wenige Jahre, um die Klimakrise und das Artensterben zu stoppen. Die nächste Regierung entscheidet darüber, wie meine Zukunft aussehen wird – und die aller kommenden Generationen. Viel zu lange hat Laschets Union den Klimaschutz blockiert und unseren Protest gleichgültig ausgesessen. Dabei ist eine deutliche Mehrheit der Menschen für konsequenten Klimaschutz. Das macht mich wütend. Aber jetzt haben wir einen mächtigen Hebel: das Kreuz auf dem Wahlzett el.“
Ich war müde und unterbrach und fuhr den PC herunter. Dann legte ich mich neben Stella, die schon fest schlief. Drei Gläser Chianti und Stella fällt ins Koma. Mein Schlaf war unruhig. Gegen vier Uhr früh muss ich von einem Albtraum wach geworden sein.
In diesem Traum sah ich Gott als schwere, unheimlich dunkle Wasserwolke über einem Tal schweben. Oder vielmehr: ER zirkulierte. ER pustete mit einer solchen Kraft, dass sich die schweren Wolken rundum im Kreis drehten und immer wieder über dem Tal sammelten. Und ER blies mit seiner gigantischen Wolkenkraft so gewaltig, dass sich die stählernen Überlandleitungen, mit denen die Windkraft von hoher See als Strom ins Landesinnere geführt wird, bogen und schließlich knallend und funkensprühend zersprangen.
Ich sah einen Gott, der so erzürnt wütete, dass ER aus seinem düster-blauen Himmel heraus mit Millionen Litern Wasser das Tal überschwemmte. Im Traum hörte ich das Splittern und Krachen von Reklametafeln und zerschellten Bauten, von klirrenden Metallgeländern und einstürzenden Brücken. Es gab keinen Halt und kein Halten mehr. Häuser stürzten ein und wurden von Wassermassen mitgerissen – selbst Gotteshäuser samt ihren kupfernen Glocken.
Das ganze Land ging unter SEINEN Wassermassen unter. ER und seine Wasserwolken umkreisten das unglückliche Gebiet ohne Unterlass, und die Regenmassen strömten mit einer Riesengeschwindigkeit durch das Tal und rissen alles mit. ER kam auf uns alle zu, und alles Leben ertrank in SEINEN Fluten. Einst war das Leben aus dem Wasser gekommen, nun war das Wasser gekommen, um das Leben zu nehmen. Und ER ließ es zürnend zu.
Ich schlief wieder ein.
64 Kilometer von Lich entfernt betrat gegen fünf Uhr morgens die Professorin Dr. Sarah Jones die Zentrale des Deutschen Wetterdienstes in der Frankfurter Straße 135 in Offenbach. Sie grüßte den Pförtner, der sich über ihr frühes Erscheinen wunderte, und ging hoch in die zweite Etage in ihr Büro. Ihr Kollege, Lars Kirchhübel, kam nur wenige Minuten nach ihr. Sie hatten sich um diese frühe Uhrzeit verabredet, um ungestört von ihrem Tagesgeschäft ein Problem »durchzukauen«, wie sie es gerne bezeichneten.
„Ich mache uns einen Kaffee“, sagte Lars, und Sarah nickte zustimmend, während sie den Computer einschaltete und den Ausdruck vom gestrigen Tag vor sich ausbreitete. Die Daten waren eindeutig.
„Die Atlantische Umwälzströmung ist so schwach wie nie zuvor in den vergangenen eintausend Jahren“, sagte sie.
„Siehst du eine regionale Gefahr für Deutschland?“ Er schob die Kaffeetasse auf ihre Schreibtischseite.
Sie sah ihn mit gespieltem Missmut an. „Die Umwälzströmung kann für die gesamte Menschheit – und nicht nur regional – dramatische Folgen haben.“ Dr. Jones reichte ihm eine Kopie ihrer Studie hinüber.
Den beiden Klimawissenschaftlern war seit langem klar, dass die Atlantische Umwälzströmung, die sie intern nach einer englischen Bezeichnung mit »AMOC« abkürzten, als eines der Kippelemente des Weltklimas gilt, ebenso wie das Grönlandeis, der Jetstream und der Amazonas-Regenwald. Sie gingen wie ihre Kollegen in aller Welt davon aus, dass Veränderungen an diesen Elementen überproportional große Folgen haben werden.
„Ich habe gestern mit unserem Kollegen Boers in Potsdam telefoniert“, sagte die Professorin. „Niklas ist in seiner Studie zu dem Ergebnis gekommen, dass die Meeresströmungen im Atlantik bereits so stark an Stabilität verloren haben, dass es schon bald zu einem Zusammenbruch dieses Systems kommen könnte.“
In seiner Studie hatte der Forscher des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung die wichtigsten Parameter herausgearbeitet. Die AMOC transportiert warme Wassermassen aus den Tropen an der Meeresoberfläche nach Norden und kaltes Wasser am Meeresboden nach Süden. Das ist für die relativ milden Temperaturen in Europa am relevantesten. Aber jetzt sah er Gefahren auf Europa zukommen.
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