Sie dachte kurz daran, dass Teemu vielleicht auch noch hier irgendwo im Hotel war. Er war hier natürlich ein gern gesehener Gast, dem man auch nachts um drei noch ein schönes Zimmer anbot, selbst wenn er stockbesoffen und die Tetrismelodie pfeifend vor der Hotelrezeption aufs Gesicht fallen würde.
Bärbel rollte einen Pulli zu einem Kissenersatz zusammen und warf sich einen weiteren als Decke über. Das Sofa war höllisch unbequem. Das stand eindeutig nur zum gut Aussehen hier und war nicht mehr als ein mit schickem Kunstleder bezogenes Holzbrett.
Sie wachte einige Zeit später auf, weil sie jemand ganz sachte an der Schulter rüttelte. Sie ließ die Augen geschlossen und hoffte, dass der Rüttler sie in Ruhe lassen würde.
Wer konnte das sein? Wahrscheinlich ein Hotelangestellter oder ein anderer Gast. Sie stufte beides als kritisch ein. Das Rütteln hörte auf, aber sie spürte, dass immer noch jemand vor ihr saß. Ziemlich dicht sogar. Der roch gar nicht so schlecht, der Rüttler, nach Aftershave.
„Hey.“ Wieder ein Rütteln, nein, eher ein Streicheln an ihrer Schulter, oha. „Was tust du hier?“, fragte er leise. Der Rüttler hatte eine tiefe, sehr angenehme Stimme. Und irgendwie klang sie bekannt. Bekannt?!
Bärbel öffnete die Augen. Vor ihr hockte Teemu und sah sie besorgt an. „Teemu?“, fragte sie verwirrt und war schlagartig wach.
Er grinste entspannt. „Mustanglady, bist du das?“
Bärbel musste schief grinsen und setzte sich auf. „Ja.“
„Was machst du hier vor meinem Hotelzimmer? Nicht, dass ich das nicht gewohnt wäre … aber von dir hätte ich das nicht gedacht“, sagte Teemu auf Englisch. Er lächelte amüsiert. Bärbel erklärte ihm in einem Gemisch aus Deutsch und Englisch, was vorgefallen war. Er sprach zwar mittlerweile sehr gut Deutsch, bei komplexeren Sachverhalten bevorzugte er jedoch immer noch Englisch.
Teemu schüttelte den Kopf und stand auf. „Das ist nicht nett von ihr. Okay, du hast mir geholfen, jetzt helfe ich dir. Komm rein.“ Er nahm Bärbels Tasche und ihre Jacke und ging in sein Zimmer zurück, welches gegenüber Bärbels Schlafplatz lag. Haltet ihn, er hat mein Gepäck gediebt!
Teemu kam wieder zurück und blieb, einer galaktischen Lichtgestalt gleich, im Türrahmen stehen.
Bärbel sah ihn an. Erst jetzt bemerkte sie, dass er nur schwarze Boxershorts und ein weißes T-Shirt anhatte, auf dem das Maskottchen der Band abgebildet war, ein besoffener Eisbär. Teemus riesige Füße steckten in gestrickten, sehr delikat gemusterten rot-weißen Socken.
Bärbels Aufmerksamkeit wurde auf seinen rechten Arm gelenkt. Das war der Arm, um den sich unter den Fans unzählige Mythen und Legenden rankten. Teemu hielt ihn seit einiger Zeit immer bedeckt, die gesamte Öffentlichkeit kannte den Finnen seit einigen Monaten nur in langärmeliger Kleidung. Ältere Bilder in T-Shirts gab es zuhauf, neuere jedoch nicht, was den Verdacht nahelegte, dass er sich hatte tätowieren lassen. Seit auf einem unscharfen Handyschnappschuss eines Fans auch unter Teemus linkem, hochgekrempeltem Ärmel ein Schatten entdeckt wurde, hatte hier eine Art Goldgräberstimmung eingesetzt. Es gab viele, teilweise wirklich abwegige Theorien, die in den sozialen Medien Unmengen an leichtgläubigen Anhängern gefunden hatten. Teemu wurde fast in jedem neueren Interview dazu befragt, verriet aber nie etwas. Wahrscheinlich würde er Bärbel erschießen oder zumindest lebenslang wegsperren müssen, immerhin kannte sie nun das wohlgehütete Geheimnis.
Es war tatsächlich eine Tätowierung. Und die war, wie es von vielen Fans vermutet worden war, weder missglückt, noch in irgendeiner Form anstößig oder hässlich, im Gegenteil. Die Tätowierung war genauso wunderschön wie unerwartet. Teemus halben rechten Unterarm und ein Stück seines Oberarmes zierte die dezent bunte und sehr realistische Darstellung eines Fisches. Im Hintergrund sah man einen See, umstanden von Bäumen.
Bärbel war ein wenig überrascht, aber hey, warum nicht. Was für ein Fisch es genau war, wusste sie nicht. Außer mit Fischstäbchen und hin und wieder mal einem Wartezimmeraquarium kam Bärbel selten in Kontakt mit Fischen.
Teemu folgte ihrem Blick, schaute ihr wieder in die Augen und zuckte grinsend mit den Schultern. „Kommst du?“
Da war er wieder, sein niedlicher Akzent. Bärbels Sarkasmuszentrum im Hirn war auch mittlerweile wieder hellwach. Ob sie kommen würde? Naja, so einfach war das nun auch wieder nicht.
Teemu ging einen Schritt zur Seite und machte eine einladende Handbewegung ins Zimmer hinein. Sämtliche von Bärbels Körperfunktionen und Organen erinnerten sich gleichzeitig an ihre Existenz und rannten wild schreiend durcheinander. Vielleicht sogar die Milz. Die Blase nahm es besonders ernst.
Bärbel war nun fast schon übel vor Aufregung, aber sie fand zumindest ihre Sprache wieder, als sie an Teemu vorbei ins Zimmer ging. „Was ist das? Euer Eisbär?“, fragte sie und zeigte auf sein T-Shirt. Den Fisch erwähnte sie lieber nicht, anscheinend lag es Teemu ja sehr am Herzen, ihn vor der Öffentlichkeit zu verbergen.
Es war bestimmt die unerwartete Inanspruchnahme ihres Kreislaufes, auf jeden Fall wollte Bärbel nur auf den Bären zeigen, tippte Teemu aber aus Versehen ganz leicht mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Sorry.“
Er lächelte, sah an sich runter und lachte kurz. „Ja, das ist er.“ Teemu schloss die Tür, ging zum Bett und fing an, seine im Zimmer verstreuten Sachen zusammenzuräumen.
Sein Zimmer war so groß wie das von Bärbel und Corinna, nur spiegelverkehrt, Bett rechts. Leider gab es hier keinen Balkon, sonst hätte Bärbel sich ninjamäßig zu Corinna rübergeschwingen können um sich zu rächen. Aber wollte sie das wirklich? Vorhin noch wären ihr hundertelf fiese Strafen für Corinna eingefallen, aber jetzt?
Eigentlich war doch alles in Ordnung. Sie hatte ihr Gepäck und Teemu, total entspannt und mit verwuschelten Haaren, und der gefiel ihr viel besser als Corinna, die Einkaufstaschen bügelte. „Danke, dass ich hier sein darf.“
„Klar, kein Problem.“
„Wieso bist du rausgekommen auf den Flur?“, fragte sie.
„Ich habe gehört Stimmen und dann durch … Loch in Tür geschaut. Manchmal schaffen es Fans bis vor die Hoteltür, aber sie haben nie so viel Gebäck. Gepäck? Als ich später noch mal geschaut habe, hast du geschlafen.“
Teemu lächelte Bärbel an. Ehrlicher als auf den ganzen Fan- und Pressefotos. Mehr wie bei Koch und weg, wenn er vergaß, dass die Kameras liefen. Wenn er mal nicht den Clown spielen musste oder seine Bühnenpersönlichkeit zur Schau trug. Privat war er ihr ungleich sympathischer.
Bärbel ärgerte sich trotz allem immer noch über Corinna. Der Rauswurf aus dem Zimmer ging ihr nicht aus dem Kopf. Klar, die Wette war ein bisschen unfair Clemens gegenüber gewesen. Andererseits – wirklich? Es war müßig, darüber nachzudenken, trotzdem schaffte Bärbel es nicht, ein paar Tränen zurückzuhalten.
Ein kleines Schniefen ihrerseits reichte, um den Finnen auf sie aufmerksam zu machen. Teemu machte ein mitfühlendes Geräusch, es klang wie eine Mischung aus Brummen und Seufzen, und kam zu ihr. Warum kam er so nah? Nicht, dass sie das unangenehm fand, im Gegenteil, aber jetzt war er wirklich nah. Er kam noch näher und umarmte sie.
„Nicht weinen, alles ist gut.“ Er strich ihr mit einer Hand über den Rücken, mit der anderen hielt er sie fest. Meine Güte, hatte der Kerl eine Kraft im heiligen Arm.
Nachdem sie ihren ersten Schock überwunden hatte, umarmte sie ihn zurück, aber sehr vorsichtig. Er war warm, weich und er roch gut. Bärbel seufzte und es kamen ihr erneut die Tränen. Teemus Arme drückten etwas fester. „Es ist okay. Du darfst weinen, wenn du möchtest. Frau im Nachbarzimmer ist böse.“
Bärbel stellte fasziniert fest, dass der private Teemu anscheinend so ganz anders war, als der, für den er sich auf der Bühne ausgab. Da machte er immer eher einen emotionslosen, fast schon arroganten Eindruck. Bärbel drückte ihr Gesicht an sein T-Shirt, heulte drauflos und vergaß total, wer er war. Sie umarmte ihn fest und schniefte.
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