Während er sich mit einer Geschichte, die von ‚Tieren auf dem Bauernhof‘ handelte, beschäftigte - abschreiben und die Tiere auswendig lernen war die Aufgabe -, musste er immer, wenn von dem Bauern die Rede war, der sich fleißig und voller Verantwortung um Haus und Hof kümmerte, an seinen Vater denken.
Er sah sein Gesicht wieder über sich, dann der Schlag, dann nichts mehr, dann die Schritte aus dem Zimmer, und der einzige Schlag hatte auch nicht so wehgetan wie sonst.
„Vielleicht ist er ja krank, dass er nicht so kann“, dachte Hannes.
Er hatte das Gefühl, dass sich seit gestern alle anders verhielten. Alles ging leiser zu, kein Türenknallen, keine lauten Rufe, seinen Vater hatte er kaum gesehen, seitdem. Der saß an seinem Schreibtisch im Wohnzimmer und wollte nicht gestört werden.
Nur Mama darf rein und dann hört man auch nichts, dachte Hannes. Papa ist krank, schwer wahrscheinlich und muss vielleicht ins Krankenhaus. Ich frage Regina, heute Abend nach der Höhle, die muss es wissen. Mama hat ihr sicher gesagt, was mit Papa ist, der erzählen sie immer alles.
Robert war pünktlich. Hannes sah ihn vom Fenster des Jungenzimmers aus und rief ihm zu: „Hinten rum“.
Robert wusste, dass damit der Pfad hinter dem Hauptgebäude, an den Nussbäumen vorbei, gemeint war.
Sicher ist sicher, dachte Hannes, wenn doch welche auf dem Schulhof sind, und die das mitkriegen, und wir dann nicht in die Höhle können.
Seine Hausarbeiten hatten die erhoffte Anerkennung gefunden, sodass seine Mitteilung, dass er noch draußen spielen gehen wolle, durch keine weiteren Auflagen eingeschränkt wurde als den üblichen Rufweitenhinweis.
Auch er lief ‚hintenrum‘, schon wegen der Katze, die er nicht sehen wollte. Robert wartete vor der Stelle, durch die man in die Hecke kriechen musste, um dann nach wenigen Metern die Höhle zu erreichen. Außer ihnen hatte noch niemand diesen Unterschlupf entdeckt und das sollte auch so bleiben. Das mit Robert war eine Ausnahme. Weshalb er Robert eingeweiht hatte, wusste er auch nicht so richtig. Er hatte es einfach getan, als Robert wieder mal nicht mitspielen durfte. Beide hatten seitdem das Gefühl, dass sie Freunde waren.
„Mit Tasche?“, fragte Hannes.
„Da is es drin.“
„Was?“
Vorsichtig löste Robert die beiden Lederriemen aus den Hakenverschlüssen, klappte den Überschlag hoch und ließ seine Hände langsam in die Tasche gleiten. Dann schob er sie unter irgend etwas, das Hannes noch nicht erkennen konnte, und bewegte es in die Höhe, so behutsam, als handele es sich um rohe Eier oder andere Zerbrechlichkeiten. Zentimeter für Zentimeter erschien nun die Kostbarkeit vor Johannes; ein Buch offensichtlich, nur größer und dicker als die üblichen, in rotem Einband mit goldener Umrandung und mit großen Buchstaben im unteren Drittel, ebenfalls in Gold.
„Briefmarkenalbum“, las Hannes und sah in ungläubiger Bewunderung in das strahlende Gesicht von Robert.
„Sind da auch welche drin?“
„Und was für welche.“
Robert rutschte sich neben Hannes und öffnete seinen Schatz.
„Warte, ich gucke erst.“
Hannes schob ein paar Zweige zur Seite und überprüfte, ob von der Umgebung auch wirklich keine Gefahr zu erwarten war.
„Ist die Luft sauber?“
Hannes nickte, gab aber mit einem an den geschlossenen Mund angelegten Finger zu verstehen, dass man trotzdem den weiteren Ablauf möglichst geräuschlos gestalten sollte.
So etwas hatte er noch nicht gesehen. Gezackte Abenteuer und Träume taten sich vor ihm auf, Königinnen und Könige, Herrscher aus fremden Ländern mit langen Gewändern und eigenartiger Kopfbedeckung, exotische Tiere, edle Pferde, Schlösser und Burgen und sogar Pyramiden. Und alle hatten Stempel, deren Aufdrucke wie verschlüsselte Botschaften auf den Marken lagen. Und von jedem aufgeschlagenen Blatt wehten ihm Düfte entgegen, die er noch nie gerochen hatte.
Fast wie Weihrauch beim Hochamt, dachte er und seine Gedanken glitten weg ins Morgenland und andere fremde Welten, zu Eseln und Kamelen, deren Geruch wahrscheinlich in die Briefe, die sie beförderten, eingedrungen war.
Jede Marke klebte mit einem Falz auf der eigens für jede einzelne mit dem gleichen Motiv bedruckten Stelle.
Hannes sammelte auch, allerdings in einem alten Schulheft mit Seiten, auf die er mit Hilfe von Kartoffelklebe Papierstreifen zum Einstecken befestigt hatte. Drei Seiten hatte er beklebt. Die fünf Streifen der ersten Seite waren fast gefüllt mit Marken, die plötzlich jeden Reiz verloren hatten.
„Geklaut?“, flüsterte er zu Robert.
„Nee, von Onkel Tom“, flüsterte der zurück. „Ich hab auch doppelte, kannste haben, für die Höhle.“
Ein paar Augenblicke war es so still um Hannes und Robert, als hielten alle Menschen auf der ganzen Welt den Atem an, dann hielt Hannes Robert eine Hand hin und Robert sagte, dass er sie jetzt aber nicht dabei hätte, und als Hannes seine Hand nicht wegzog, verstand er. Er löste langsam eine Hand von dem Album, legte sie an die Hand von Hannes und rieb sie zweimal an deren Innenfläche.
Achtundneunzigprozentig, dachte Hannes, das ist achtundneunzigprozentig, ganz bestimmt.
„Das mach ich immer mit meiner Mutter“, flüsterte Robert.
Hannes rieb zurück und fragte: „Darf ich auch mal halten?“
„Aber vorsichtig, sonst knickt man welche beim Umblättern.“
Dann reichte er ihm das Buch, langsam und fast feierlich, so, als ob er ihm den Vertrag ihrer Freundschaft in die Hände legen würde zur endgültigen Besiegelung.
Die Rufe seiner Mutter nahm Hannes heute erst wahr, als diese zum wiederholten Male und mit einem unangenehmen Unterton in der Höhle ankamen. Diese Stimme überzeugte auch Robert, und er riet zum sofortigen Aufbruch.
Zuhause kam es dank der tadellosen Schularbeiten vom frühen Nachmittag nicht zur Verhängung von sonst üblichen Spielverboten. Seine Mutter ließ es bei einer ernsten Ermahnung bewenden.
Erst im Bett fiel ihm ein, dass er die Katze ganz vergessen hatte, und Regina und den Kirschbaum. Aber morgen würde Robert ihm vielleicht die Briefmarken mitbringen und dann ..., dann schob der Gedanke an die Marken auch jetzt die Katze beiseite und alles, was sonst noch zu erledigen gewesen wäre, und er ließ sich von den bunten Bildern, die er am Nachmittag gesehen hatte, in den Schlaf begleiten.
„Hallo sweety.“
Tom stand lachend in der Tür.
„Nanu, heute, ohne Anmeldung, kannst du Hellsehen?“
Ungewöhnlich, dachte sie, das macht er doch sonst nicht, und wie ich aussehe, dann muss er eben warten, solange wird er es ja wohl noch aushalten.
„Hellsehen?, what meens ‚entschuldige, was bedeutet ‚Hellsehen‘.“
„Na, dass Robert heute den ganzen Nachmittag im Dorf ist, und wir ungestört sind, aber sieh mich an, ich muss erst ...“
„No, no, ich habe keine Zeit heute, ich bin nur auf der Durchreise, sozusagen, ich wollte nur wegen gestern sagen und ich habe etwas für dich.“
Unter seiner ausgebeulten Uniformjacke zog er ein längliches Paket vor und hielt es ihr hin.
Ist doch ein feiner Kerl, dachte sie, vor allem, wenn das drin ist, was ich vermute.
„Soviel Zeit wird sein“, sie nahm das Paket, legte es auf einen Stuhl, zog ihn von der Tür mit sich in den Flur und küsste ihn.
„Stop, please, ich bin nur ein Mann und im Dienst außerdem.“
Er schob sich aus ihren Armen, strich sich irritiert durch die Haare, sagte, dass sein Fahrer im Jeep warten würde, und dass er morgen Nachmittag Zeit hätte und dass es schön wäre, wenn Robert unter Umständen nochmal vielleicht ins Dorf...
Frau Jankowski nickte ‚okay‘, streichelte seine Wangen und gab ihm noch einen Kuss mit auf den Weg, diesmal jedoch in schwächerer Dosierung.
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