„Oh! Ich verstehe. In vorderster Front im Kampf um Ehrlichkeit und Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Freimut!“
Ich antworte nicht. Einen Augenblick lang frage ich mich, was dieser Mann mit seinem Sarkasmus einem Fremden gegenüber bezweckt. Ich kenne solche Diskussionen zu genüge, habe sie oft genug mit anderen geführt, Fremden und Bekannten, ohne, dass irgendetwas dabei herausgekommen wäre. Außerdem bin ich nicht hierher gegangen, um mein Privatleben von einem Unbekannten auf den Prüfstand stellen zu lassen. Der Kellner bringt zwei Gläser Wein und lächelt. Er hebt seines eine Hand breit an und prostet mir zu.
„Wissen Sie, dass ich mich nicht erinnern kann, je etwas bewusst gekauft zu haben, das ich irgendwo beworben gesehen habe? Nicht bewusst, meine ich.“
Der zynische Unterton in seiner Stimme ist verschwunden.
„Dieser Alles-jetzt-und-fast-umsonst-aber-unsagbar-wichtig-Blödsinn bewirkt bei mir eher das Gegenteil. Schon seit einiger Zeit.“ Er verzieht den Mund zu einem undeutbaren Lächeln und scheint durch mich hindurch zu schauen.
„Natürlich muss auch jemand wie ich Lebensmittel kaufen. Und wahrscheinlich wurde irgendein Produkt irgendwann einmal irgendwo beworben. Auch ich besitze ein Auto, mit dem ich gelegentlich irgendwohin in Urlaub fahre. Meine Frau hat es mir vor Jahren allerdings nicht einfach so zum Valentinstag geschenkt. Ich brauche Waschmittel, Seife, Kleidung und so weiter, wie jeder andere Mensch. Ich habe sogar ein Handy. Ich meine ein Handy, kein Smartphone. Manchmal schaue ich mir im Fernsehen alte Filme an. Und je nach Tageslaune stehe ich zu den Werbepausen auf, um etwas anderes zu machen, was meistens passiert, oder ich bleibe sitzen und staune über diese Manifestationen sich unbegrenzt ausbreitender, menschlicher Verblödung. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie ihren Verstand und beobachten einmal eine Weile ihr Umfeld. Macht das einer?“
Es scheint ihn wirklich zu interessieren. Ich grinse ihn an und hebe mein Glas, um das Ausbleiben einer Antwort zu überspielen. Jemand wie er gehört wahrscheinlich zu denen, die Carsten immer als Die Verlorenen bezeichnet. Aber um diese Versprengten ist es eigentlich noch nie gegangen. Der Löffel mit Honig, den man in die Luft hält, den wir anbieten muss nur groß genug sein und man muss ihn lange genug hochhalten. Der Honig muss nur süß aussehen und sein Genuss ein gewisses Alleinstellungsmerkmal versprechen. Es werden genug daran kleben bleiben! Es ist niemals anders gewesen.
„Obwohl“, fährt er fort und in seinen Augen erscheint ein seltsames Blitzen, „ich muss ehrlich bleiben. So ganz stimmt das nicht, was ich gesagt habe. Hin und wieder kaufe ich mir eine CD. Wenn ich eine gute Besprechung im Radio gehört habe. Wussten Sie übrigens, dass die Firmen Sony und Philips Anfang der achtziger Jahre bei der Einführung der Compact Disc ihre Größe und den Speicherumfang nach genau dem eben gehörten Werk bemessen haben? Beethoven. Beethoven! Wilhelm Furtwänglers Aufnahme der Neunten von 1951 dauerte genau vierundsiebzig Minuten und sollte ohne einen Wechsel des Mediums zu genießen sein ...“
Ich schaue ihn ungläubig an und er nickt bestätigend.
„Ausgerechnet Wilhelm Furtwängler! Einer der drei Musiker auf Hitlers Gottbegnadeten-Liste . Was gäbe ich dafür, könnte man mit den Toten über Wahrhaftigkeit sprechen. Er warf den Mannheimer Musikern 1933 die Partitur vor die Füße, weil sie sich weigerten unter seinem Kapellmeister Simon Goldberg zu spielen. Den Mannheimer Geiger mit der Hakenkreuzbinde hat er damals des Pultes verwiesen. Aber er lässt sich von Goebbels zum Direktor der Berliner Staatsoper ernennen. Er schreibt ihm einen offenen Brief, indem er darauf hinweist, dass er nur bereit ist zwischen guter und schlechter Kunst zu unterscheiden. Aber er lässt sich von ihm in den Reichskulturrat berufen und unterstützt den Anschluss Österreichs. Nennt man so etwas nicht opportunistisch?“
Er spitzt die Lippen und in seinen Augen blitzt etwas Herausforderndes.
„Dass seine Version der Neunten Jahre später ausgewählt wurde, um eine durchaus spektakuläre technische Erneuerung auf den Markt zu bringen, dürfte ihn wohl gefreut haben. Aber, bitte, sagen Sie mir jetzt, wie Ihnen das Konzert gefallen hat. Was haben Sie empfunden? Beschreiben Sie es mir. Was ist in Ihnen vorgegangen?“
Ich stoße einen Seufzer aus und versuche mich zu erinnern. Am Tresen rutscht dem Kellner ein Glas vom Tablett und zerspringt mit einem lauten Klirren auf dem Boden. Zwei Sekunden lang herrscht gedämpftes Schweigen im Raum und dann schwingen sich Stimmen und Geräusche wieder auf das übliche Niveau, um sich ineinander zu verknäulen. Und während meine Gedanken in den Dom zurückwandern, höre ich mich sagen:
„Vielleicht war Furtwängler ja wirklich nur an der Kunst und seinem Einsatz für sie interessiert. Hätte man ihn verboten, verjagt, dann ...“
Was hatte ich vor einer Stunde gefühlt? Es ist schwer zu erklären.
„... Ja. Ziele erreichen auf den Wegen der Verstellung, der Lüge und Unaufrichtigkeit, der Illusion und – Diplomatie. Ein probates Mittel.“
Sein Kopf wackelt wie einer jener Plastikhunde auf verstaubten Hutablagen eines Audi A80 aus den Siebzigern. Er starrt sein Glas an und scheint zu sich selber zu sprechen. Einen Moment lang kommt mir in den Sinn, meinen Wein einfach stehen zu lassen, aufzustehen, mich freundlich und noch einmal bedankend zu verabschieden und zu gehen. Dieser Mann scheint einen Hang zum Dozieren zu haben und das behagt mir nicht. Ich lasse mich nicht gerne, einfach so, aus dem Zusammenhang gerissen, belehren. Schon gar nicht von Menschen, die ich nicht kenne. Ich bin diesem Fremden zu nichts verpflichtet und mir fallen diverse Gründe ein, die ich vorschieben könnte.
Aber dann geschieht etwas äußerst Seltsames und mein Gedanke verflüchtigt sich und zieht sich zurück, wie jemand, der eine Tür öffnet und bemerkt, dass er ein vertrauliches Gespräch stört.
Er hat seine Brille wieder abgenommen und wischt sich mit dem Finger über sein rechtes Auge. Dann sieht er mich an, lächelt und abermals nickt er versonnen, als wolle er eine Bemerkung bestätigen, die jedoch nicht gefallen ist. Ich bin mir absolut sicher, dass er sich verschämt eine Träne aus dem Auge gewischt hat. Mein Verstand sucht händeringend nach einer Reaktion auf diese zu schlingern beginnende Situation. Peinlichkeit und Verschämtheit schweben von der Decke herab, obwohl ich mir sicher bin, dass einzig ich sie sehe, fühle. Aber da lächelt er mich schon wieder herausfordernd an und wartet mit fragendem Blick auf meine Antwort und für Bruchteile von Sekunden habe ich ein Bild vor Augen, klar und scharf umrissen: einen Fisch direkt unter der Wasseroberfläche, einen Fisch mit unbeschreiblich verstörtem Gesichtsausdruck, meinem Gesicht. Und den Haken, den er nicht mehr aus dem Maul bekommt.
Ich seufze und hebe beide Hände ein wenig, als könne man mit einer solchen Geste unerwünschte Fragen abwehren.
„ ... ich bin kein ... Musik ist nur ein Hobby ... ich weiß nicht ...“
„Bitte. Sie können doch mit Worten umgehen.“ Seine Unterbrechung hat nahezu etwas Flehendes. „Es ist Ihr Beruf, oder nicht?“
Mein Blick kann nicht anders. Einen viel zu langen Moment mustert er die lupenhaften Brillengläser dieses Mannes, als wolle er versuchen hinter sie vorzudringen, um zu erkunden, ob in diesem letzten Satz noch etwas ganz anderes, Spottendes mitklang. Als er irritiert die Augenbrauen hebt, entschuldige ich mich. „Pardon“, und es entsteht eine Pause.
„ ... Es gab ein paar Passagen, es gab Stellen, bei denen ich etwas gefühlt habe, das ich hier und da in vollkommen anderen Situationen ...“
Ich rede schneller als ich denken kann und drohe mich zu verhaspeln. Als ich die Lippen spitze und unmerklich auspuste, beginnt die Kerzenflamme zu zittern und wir beide müssen unwillkürlich lächeln.
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