Stella fiel ihrer Freundin Julia freudestrahlend um den Hals, und diese kitzelte bereits nach zwei Minuten die wesentlichen Eckpunkte des Geschehenen aus ihr heraus.
„Das wurde ja auch Zeit, dass du mal deinen Deckel findest!“, freute sich Julia.
Als sie später in Julias Küche saßen, lauschte Julia Stellas Bericht.
Stella versuchte, ihrer Freundin, wie es ihre Art war, haarklein jeden Moment der Begegnung mit Zorro/Steven zu schildern, während sie vor überschüssiger Energie den Stiel ihres Weinglases massakrierte. Julia und sie glucksten und kicherten und drückten sich zwischendurch fest die Hand. Sie rekapitulierten weinselig sämtliche Loser, die sie beide bereits in ihrem Leben abgefrühstückt hatten, und konnten es kaum fassen, dass ihnen diese zugemutet worden waren.
„Steven ist ganz anders. Steven ist einfach unglaublich“, schwärmte Stella.
„Mensch, du strahlst wie ein Honigkuchenpferd“, fand Julia. Diese unglaubliche Glückseligkeit konnten nur frisch Verliebte ausstrahlen.
Stunden später sank Stella weinschwer und zufrieden mit ihrem Dasein, nicht ohne kurz vorher ihr Handy noch einmal gecheckt zu haben, in das von Julia bereitete Gästebett. Warum er sich immer noch nicht gemeldet hatte, darüber beschloss sie, erst am nächsten Tag nachzudenken.
Nachdem Steven stundenlang ziellos durch die eisigen Straßen Kölns herumgeirrt war, hatte er wortkarg einen Anruf von Gregor beantwortet. Danach war er schweren Herzens in seine Wohnung zurückgekehrt. An das kurze Gespräch mit seinem Vater, den er im gemeinsamen Patio mit Corinna recht verkatert antraf, konnte er sich kaum erinnern.
Zurück in seinem Loft verharrte er lange im Türrahmen seines Schlafzimmers und blickte auf die zerwühlten Bettlaken, die ihn zu verhöhnen schienen. Wie in Trance setzte er sich auf die Bettkante und vergrub dann stöhnend seine Nase in seinem Kissen, in der vagen Hoffnung, noch etwas von Stellas Duft zu erhaschen. Von einer Minute auf die andere gab er sich jedoch einen Ruck, zog das Bett ab, versenkte das Bettzeug tief im Wäschekorb und öffnete das Fenster sperrangelweit, um die kalte Februarluft jede Erinnerung an sie vertreiben zu lassen. Als ob das so einfach wäre.
Er hob endlich die angerissene Brötchentüte vom Küchenboden auf und warf sie in den Mülleimer. Eigentlich hätte er hungrig sein müssen, aber sein Magen war wie zugeknotet.
Das Beste war, sich durch Arbeit abzulenken, entschied er, und so saß er bis tief in die Nacht an seinem Modell für den Wettbewerb, ohne auch nur ansatzweise voranzukommen. Er konnte den Gedanken an sein einsames Schlafzimmer nicht ertragen und warf sich irgendwann erschöpft aufs Sofa. Als er die Kissen und Kleidungsstücke, die darauf lagen, zu Boden fegte, segelte ein helles Fleckchen Stoff aus seinem Zorro-Umhang auf das Polster. Wie erstarrt griff Steven danach.
Als er später in einer grässlichen Endlosschleife eines Traumes wieder und wieder Szenen der Nacht mit Stella durchlebte, glitt der zerknüllte goldene Tüllstern aus seiner Faust.
Der nächste Tag begann für Stella mit einem Kater, der nicht nur von den fast zwei Flaschen Wein herrührte, die sie mit Julia gekillt hatte. Immer noch fehlte jegliche Nachricht von Steven.
Der Blick auf den blaugrauen Horizont, der Duft nach Salzwasser, Rosmarin und Macchia in der Nase besänftigte am zweiten Urlaubstag Stellas wunde Seele. Die Temperatur auf Elba war im Februar etwas höher als in Köln. In ihrem dicken Wollpulli hätte sie ewig am Ufer stehen und ihre schweren Gedanken vom Seewind wegpusten lassen können. Der gemeinsame Abend mit Steven erschien ihr so fern von der Heimat unwirklich und rückte in einen Nebel der Erinnerung.
Hatte sie wirklich alles so erlebt, wie sie es meinte? Oder sollte sie sich in ihm getäuscht haben? War sie doch nur ein One-Night-Stand für ihn gewesen? Wieder und wieder ging sie die einzelnen Momente durch und versuchte zu greifen, was ihr eventuell entgangen sein konnte. Ihr Kopf dröhnte von dem Karussell, das sich in ihr drehte.
„Mir ist kalt, Stella.“ Julia zog sie in ein Restaurant am Hafen von Rio Marina. Julia, die ihre halbe Kindheit auf Elba verbracht hatte, kannte den Besitzer. Das rustikale Lokal war hauptsächlich von Einheimischen besucht. Die Fischplatte, die der charmante Kellner wenig später mit einer fulminanten Geste vor sie hinstellte, sah aus wie ein maritimes Kunstwerk. Doch nur Julia aß mit gutem Appetit. Stella schob gedankenverloren ihr Essen auf dem Teller von links nach rechts, hatte noch keinen Happen gegessen, hingegen schon das zweite Viertel Weißwein für sich bestellt.
Julia ergriff Stellas Hand. „Hey, sei nicht traurig. Es gibt sicherlich einen Grund, weshalb er sich noch nicht gemeldet hat.“
Stella holte tief Luft. „Welchen denn wohl? Ich meine, wir leben in einer Welt, in der es neben einem Anruf vielfältigste Möglichkeiten der Kommunikation gibt: SMS, WhatsApp, Twitter, Facebook ...“
Julia winkte ungeduldig ab. „Ja, aber vielleicht hat er aus irgendeinem Grund deine Adresse nicht gefunden und ist jetzt genauso verzweifelt wie du.“
Stella schnaubte. „Wie soll er sie denn nicht gefunden haben? Ich hab mir doch genau überlegt, wo ich sie hinlege, damit er sie gleich beim Reinkommen sieht!“
„Vielleicht war ja die Putzfrau zwischendurch da und hat den Zettel weggeräumt?“
„Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Wo war er überhaupt? Welcher Mann lässt eine Frau so einfach allein in seiner Wohnung sitzen und haut ohne ein Wort ab?“
„Du hast doch selbst gesagt, dass du davon überzeugt warst, er käme wieder.“
Stella schluckte schwer und zog eine Grimasse. „Ja, das war vorgestern. Aber weil der sich so überhaupt nicht mehr meldet, bin ich mir da nicht mehr sicher.“ Um sich zusammenzureißen und nicht hier vor allen Leuten in Tränen auszubrechen, stierte sie auf ein kitschiges Ölbild, das eine Hafenszene darstellte.
„Aber warum sollte er das tun? So, wie du mir diese Karnevalsnacht geschildert hast, war es für ihn genauso schön wie für dich.“
Stella leerte, um etwas Zeit zu gewinnen, ihr Glas. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern, als sie gestand: „Vielleicht habe ich ihn ja verschreckt?“
Julia schüttelte verständnislos den Kopf. „Verschreckt? Wie soll das denn passiert sein?“
„Na, ich hab ihm gesagt, dass ich … ihn liebe.“
Julia schnappte nach Luft und wurde schlagartig laut. „Du hast was gesagt?“
Der Kellner, der hinter der Bar Gläser polierte, schaute zu ihnen herüber und runzelte die Stirn.
Julia räusperte sich und wiederholte ihre ungläubige Frage gedämpfter. Stella holte tief Luft. Unvermittelt wurde sie ärgerlich. Ob auf Julias Reaktion oder mehr auf sich selbst, war ihr in diesem Moment nicht ganz klar.
„Ich wollte es ja nicht. Ich konnte es einfach nicht steuern.“ Nochmals senkte sie ihre Stimme. „Es ist einfach aus mir rausgesprudelt, als ich gekommen bin.“
Julia starrte sie mit offenem Mund an. Dann vergrub sie stöhnend ihr Gesicht in ihren Händen.
„Oh, Stella! Was soll ich sagen? Das klingt gar nicht gut. Hast du denn Bernd und mir gar nicht zugehört?“
Als Stella wie ein Häufchen Elend noch mehr in ihrem Stuhl versank, winkte Julia den Kellner heran. „Zwei doppelte Grappas, bitte.“
Der Kellner war entzückt und kehrte mit einem ganzen Tablett von Flaschen in unterschiedlichsten Designvarianten zurück. Er wollte gerade ansetzen, die einzelnen Vorzüge der Grappasorten zu erläutern, als ihn ein strenger Blick Julias abrupt verstummen ließ.
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