1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Er war so fasziniert gewesen von ihrem Anblick – und dann brachte ihn ihr förmlicher Gruß auf den Boden der Tatsachen zurück. Er hatte seinen Job zu erledigen und sonst nichts. Warum nur hatte sie ihn daraufhin nicht einfach gehen lassen können? Allein schon ihre Betonung, sie sei ein Hausgast, ließ ihn sich besinnen, dass ihre Welten meilenweit auseinanderlagen. Sie war augenscheinlich eine dieser reichen Tussis, die den Sommer über das wilde Leben an der Küste verbrachten. Ohne Gedanken an ihr Auskommen oder an Konsequenzen. Von solchen Frauen hatte er definitiv die Nase voll. Aber ihr Duft fand seinen Weg aus ihrem feuchten Haar in seine Nase.
Plötzlich war er zutiefst beunruhigt. Was wollte sie nur von ihm? Suchte sie einen kernigen, hart arbeitenden Typen, der sich von den verweichlichten Superreichen unterschied, als Bettgenossen für die Saison? Nein, danke. Nicht mit ihm. Nicht noch einmal.
Trotz seiner Abscheu bei diesem Gedanken regte sich unwillkürlich Verlangen in ihm. Nur widerwillig ergriff er ihre Hand, war er sich doch seiner erdigen Hände bewusst. Sie hatte ungewöhnliche graue Augen, die ihn magisch anzogen. Von ihrer Berührung stieg ein starkes Kribbeln in seine Hand, das unerträglich war. Er konnte sich einen Augenblick lang nicht entscheiden, ob er dem übermächtigen Drang, sie ganz nah zu sich zu ziehen, nachgeben sollte. Vor Schreck über diesen Impuls ließ er ihre weiche Hand abrupt los. So nah bei ihr hatte er den erregten Pulsschlag an ihrem Hals wahrnehmen können.
Das muss enden. Sofort!, war ihm der Gedanke durch den Kopf geschossen.
Also war er gegangen.
Während er sich anschnallte und losfuhr, überdachte er stirnrunzelnd ihren letzten Satz.
„Ich weiß“, hatte sie gesagt.
Was sollte das bedeuten? Was wusste sie denn über ihn?
„Gar nichts!“, schnaubte er seinem Augenausschnitt im Rückspiegel zu. Am besten, er vergaß diese Begegnung, entschied er, als er sich mit seinem Wagen langsam die Serpentinen gen Meer hinunterschlängelte.
Am nächsten Morgen erwachte Julia früh. Obwohl sie sonst keine Frühaufsteherin war und es liebte, vor sich hinzudösen, war sie heute schlagartig hellwach. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr: Es war erst sechs Uhr. Ob das an den Austern liegt?, grübelte sie vor sich hin.
Am Abend hatte sie mit Charles de Bertrand in einem der Speisezimmer ein leichtes mediterranes Dîner eingenommen. Zur Einstimmung – wie hätte es auch anders sein sollen – reichte die Küche eisgekühlte Austern. Dazu gab es einen exzellenten Perrier Jouët, mit dem Julia den Geschmack nach Meer herunterspülen konnte.
Julia betrachtete bewundernd die im Jugendstil verzierte Champagnerflasche, als Virginie ihr nachschenkte. Die Austern waren hervorragend, und Julia hatte einige davon geschlürft.
„Julia, erzählen Sie mir doch bitte von sich.“
Julia wand sich innerlich. Sie mochte ihren Arbeitgeber, fand es aber nicht angebracht, ihm ihr Privatleben zu offenbaren. Insbesondere, dass es so glorreich in Scherben hinter ihr lag. Leider fiel ihr auf die Schnelle kein interessantes, aber unverfängliches Thema ein.
„Nun, Monsieur de Bertrand, ich bin in Köln aufgewachsen ...“
Er lachte laut auf. „Charles“, sagte er. „Nein, ich meine etwas, was ich nicht Ihrem Lebenslauf entnehmen kann.“
Julia strich nachdenklich über den Stiel ihres Champagnerkelches.
„Gibt es denn keinen Mann, der sich nach Ihnen sehnt, wenn Sie den Sommer über mit einem alten Mann in Frankreich verbringen?“
„Also, ich ... da gab es bis vor Kurzem jemanden. Er war auch der Grund, weshalb ich in Zürich gewohnt habe. Aber das ist vorbei, und ich lebe derzeit bei meiner Freundin Stella und ihrer Familie in Köln. Und ich wäre Ihnen mehr als dankbar, nicht über diesen Mann sprechen zu müssen.“
Charles zog fragend seine Brauen hoch.
„Der Kerl hat Sie doch nicht etwa schlecht behandelt? Dann müssen Sie mir sagen, wer es ist, und ich schwöre, er wird die längste Zeit in Zürich glücklich gewesen sein.“
Er blickte so ernsthaft, dass Julia darüber nachsann, ob er tatsächlich so mächtig war, Marcus’ Zukunft zu beeinflussen. Kurz war sie versucht, Charles’ Angebot zu überdenken. Aber, wie sie bereits Stella versucht hatte zu erklären, traf Marcus nicht alleine die Schuld daran, dass Julia sich am Ende klein gefühlt hatte. Außerdem war sie nicht auf Rache aus. Sie wollte diesen Sommer nutzen, so rasch wie möglich zu vergessen. Und wenn alle Tage so würden wie der erste, würde ihr das auch ohne Zweifel gelingen.
„Danke für Ihr Angebot, Charles, aber das wird nicht nötig sein. Was sind das eigentlich für wunderbare Blumen?“ Julia deutete auf eine hohe Vase mit auffallend exotischen Blumen, deren Blüten orange und blau auffächerten und die fast wie ein Vogelkopf anmuteten.
Charles ging grinsend auf ihre eindeutigen Hinweis, das Thema zu beenden, ein. „Das sind Strelitzien. Sie wuchsen auch mal hier im Garten beim Pool. Aber das ist lange her.“
Einen Moment verlor sich Charles in Gedanken. Keine angenehmen, wie Julia aus seiner gerunzelten Stirn schloss. Dann besann er sich wieder auf seinen Gast und hob ein weiteres Mal sein Glas.
„Sie werden sehen, Julia, auf Mirabel heilen alle Wunden schneller als anderswo.“
Lächelnd stießen sie ihre Gläser aneinander.
Der weitere Abend verging mit angeregter Plauderei wie im Flug. Erleichtert stellte Julia fest, dass Charles ein unkomplizierter und interessierter Gesprächspartner war. Er unterließ jeden weiteren Versuch, Julia über ihr Privatleben auszuhorchen. Was sie sehr erleichterte. Wobei sie selbst darüber grübelte, ob sie derzeit überhaupt ein von der Arbeit getrenntes „Privatleben“ hatte.
Das Essen war wirklich köstlich, und Julia, leicht euphorisiert vom Alkohol und den Eindrücken des Tages, genoss den Abend in vollen Zügen. Charles zog sich recht bald zurück, und auch Julia war froh, in ihrem Dahlienzimmer Ruhe zu finden. Nach dem Zähneputzen stand sie noch eine Weile auf ihrer Terrasse und schaute auf die glitzernden Lichter an der Küste und die Boote auf dem Meer. Hoch über ihr bildeten unzählige Sterne eindrucksvoll die Milchstraße. Julia stand dort, den Kopf in den Nacken gelegt, und betrachtete die flimmernden Konstellationen.
Das unvermittelt einsetzende Rauschen der Bewässerungsanlage für den Garten hatte sie an Mathieu denken lassen, und mit einem stillen Lächeln hatte sie sich wenig später glücklich in ihr Himmelbett gekuschelt. Wenn alle Tage dieses Sommers so werden wie dieser ..., hatte sie noch kurz gedacht, bevor sie eingeschlafen war.
Obwohl es noch sehr früh war, sprang Julia energiegeladen aus dem Bett, um gleich darauf ein wenig ratlos in ihrem Schlafzimmer herumzustehen. Was sollte sie jetzt tun? Ihre Arbeit mit Charles würde nicht vor zehn Uhr beginnen. Dann kam ihr ein Geistesblitz. Sie würde die Zeit nutzen, um Sport zu treiben. Genau das, was sie während ihrer zeitintensiven Tätigkeit als Anwältin nie hatte tun können.
Entschlossen kramte sie ihren Badeanzug und ihre Schwimmbrille hervor, schnappte sich eines der Handtücher, schlüpfte in Flipflops und stand schon wenige Minuten später am Rand des großen Pools. Dieser lag, genau wie am Vortag, verwunschen einsam da. Außer ein paar Insekten, die über die Wasseroberfläche tanzten, war Julia allein.
Ein erster Kältetest mit der Hand brachte sie fast wieder von ihrem Vorhaben ab. Brrr. Mehr als achtzehn Grad konnten das nicht sein. Sie hob den Blick und sah, wie die Sonne jeden Moment hinter einer Hügelkette hervorkommen musste. So würde sie wenigstens nach dem Schwimmen ein wenig gewärmt werden.
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