Charles de Bertrand neben ihr schnalzte anfangs ein paar Mal missbilligend die Zunge und regte sich anscheinend darüber auf, welche neu errichteten Industriegebiete und Baukräne seit seinem letzten Besuch zur Verschandelung der Küste geführt hatten. „Kein Vergleich zum Flair der Sechziger- und Siebzigerjahre, junge Dame.“
Je mehr sie sich jedoch von Nizza entfernten und die sattgrünen Hügel der Côte d’Azur sichtbar wurden, hob sich seine Stimmung unvermittelt. Begierig wie ein Kind deutete er aus dem Fenster und erzählte Julia mit verträumtem Gesichtsausdruck Anekdoten zu einzelnen Hügelsilhouetten und einsamen Prachtvillen auf der Strecke.
Seine Laune steckte an, und als er plötzlich aufgeregt nach unten deutete, breitete sich unbändige Vorfreude in Julia aus. An der Küste sammelten sich recht hässliche Hochhäuser, die vereint jedoch unerklärlicherweise Eleganz ausstrahlten, um einen Yachthafen.
„Das ist Monaco, meine Liebe. Jetzt ist es nicht mehr weit. Da vorne liegt bereits Roquebrune“, erklärte ihr Arbeitgeber.
Julia blickte staunend auf die dicht gedrängten sandfarbenen Gebäude und die palmengesäumten Boulevards, die eindrucksvollen Yachten, die im Hafen lagen, und die imposante Palastanlage der Grimaldis. Das war es also: der Inbegriff von Dekadenz und Reichtum. Julia lächelte und entspannte sich. Sie hatte allmählich richtig Lust auf den Neuanfang bekommen.
Der Helikopter näherte sich dem dicht besiedelten Hügel Roquebrunes. Julia erspähte unzählige Prachtvillen, deren Swimmingpools türkis glitzernd in der Sonne lagen. Während der Pilot den Helikopter langsam über einer runden Plattform absenkte, löste sich ein junger Mann, der kaum älter als achtzehn sein konnte, von einem wartenden Golfcart und lief in leicht gebückter Haltung gegen den Wind der auslaufenden Rotorblätter auf sie zu.
„Bienvenu, Madame. Bienvenu, Monsieur de Bertrand“, begrüßte er sie und half zuerst Julia aus dem Hubschrauber.
„Ah, Pierre! Sie sind aber groß geworden.“ Erfreut ergriff Charles de Bertrand Pierres Hand und ließ sich, von ihm gestützt, zu dem Golfcart führen. Zu Julia gewandt, erklärte er: „Pierre ist der Enkel unserer Haushälterin Estelle, und ich kenne ihn schon sein ganzes Leben. Pierre, das ist Julia Sandhagen, meine Assistentin.“
Pierre nickte Julia freundlich interessiert zu. Nachdem alles verstaut war, setzte Pierre das Cart in Bewegung und sie erklommen rappelnd einen bekiesten Weg, der in sanften Serpentinen den Hügel hinaufführte.
Nach der letzten Kehre, die sich um eine eindrucksvolle Pinie wand, blieb Julia abermals vor Staunen der Mund offen stehen. Vor ihr lag ein verwinkeltes, großes Haus, das mit seinen unzähligen Balkonen, pflanzenbeschatteten Treppchen, kleinen Terrassen und Türmen wie ein kleines Schloss anmutete. Blaue Fensterläden umrahmten die unzähligen Fenster und Balkontüren. Sie erkannte das Haus vom Bild in de Bertrands Büro wieder, doch in natura wirkte alles noch viel imposanter. Julia assoziierte sofort eine Villa aus dem alten Rom. Ehrwürdig gewachsene Bäume, vornehmlich gigantische Schirmpinien, Zypressen und Palmen, warfen ihre Schatten auf einen Vorplatz. Auf der Eingangstreppe hatte sich das Personal für den Empfang des Hausherrn versammelt. Wie bei Downton Abbey, ihrer Lieblingsserie um einen englischen Landsitz, dachte Julia entzückt.
Als die Reifen des Carts im Kies knirschend zum Stehen kamen, holte Charles de Bertrand tief Luft. „Ah, tut das gut, wieder hier zu sein.“
Schon stürmte eine etwa sechzigjährige Frau auf den Wagen zu. „Oh, Monsieur Charles, wie schön, Sie zu sehen. Eine solche Freude!“, rief sie. Ihr Gesicht zeigte mütterliche Freude.
Charles de Bertrands Gesicht leuchtete ebenfalls freudig auf, und Julia vermutete, er musste sich zurückhalten, die rundliche Frau nicht zur Begrüßung in seine Arme zu schließen. Er wandte sich zu Julia. „Darf ich vorstellen, das ist Estelle. Seit ich denken kann, die gute Seele dieses Hauses. Estelle, das ist meine Assistentin für diesen Sommer – Julia. Sie spricht übrigens fließend Französisch, Sie müssen sich also nicht auf Deutsch abmühen“, zwinkerte Charles ihr vertraulich zu.
Als hätte Charles seine lange verlorene Tochter vorgestellt, umfasste Estelle Julias Hand mit beiden Händen und drückte diese herzlich. „Oui, wir haben Sie bereits erwartet und das Dahlienzimmer für Sie hergerichtet. Sie wollen sicherlich erst einmal ankommen und sich nach der Reise ausruhen.“ Freundlich zwinkerte sie Julia zu und zog sie leicht Richtung Eingang.
Julia folgte ihr verblüfft. „Ja … aber … ich muss mich um Monsieur de Bertrand kümmern.“
„Ach was, das können Sie auch später noch. Hier sind genug eifrige Helfer. Sie sollen doch ein wenig Freizeit haben.“
Julia stellte nach einem Blick über ihre Schulter beruhigt fest, wie Charles de Bertrand ihr entspannt nachwinkte. Am Eingang knickste eine junge Frau vor ihr und stellte sich als Virginie vor. Julia schätzte sie auf Anfang zwanzig.
„Ich bringe Sie zu Ihrem Zimmer, Madame.“ Sie winkte Pierre. „Pierre, du holst bitte das Gepäck von Madame und trägst es ins Dahlienzimmer hoch, und sobald Gerard da ist, bringst du den Rest.“
Der Junge machte sich eifrig an seine Aufgabe. Julia fühlte sich wie in einem Traum: das Personal, der Knicks, die Kiesauffahrt. Das durfte doch alles nicht wahr sein, schmunzelte sie innerlich über diese Klischee-Wunderwelt, die ihr Zuhause für die nächsten Wochen sein sollte.
Virginie führte Julia über mehrere Treppchen und Wandelgänge zu einem Wohntrakt, der in einem ruhigen Teil des Hauses lag. Das Innere des Hauses schien vollständig modernisiert und war geschmackvoll im mediterranen Stil eingerichtet. Die Ausstattung war zu schlicht, um billig zu sein. Julia war erleichtert, dass sie weder die kühle Atmosphäre der Sechzigerjahre noch die Seidentapeten-Opulenz, die sie von einer französischen Villa an der Côte d’Azur erwartet hatte, umgab.
Julia folgte Virginie, die eine große Flügeltür geöffnet hatte und sie hineinbat. Als sie den Raum betrat, musste sich Julia schon wieder ermahnen, rasch den Mund zu schließen, der sich beim Anblick des Dahlienzimmers staunend geöffnet hatte. Das war wohl eher eine Dahlien-Suite: ein hoher Raum, der auf der gesamten südlichen Wandfläche von Terrassentüren gesäumt war, vor denen lichte Vorhänge im Wind flatterten. Vor einem der Fenster entdeckte sie einen großen Schreibtisch aus hellem Holz, auf dem ein MacBook mit Drucker stand. In der gegenüberliegenden Ecke neben der Tür lud eine Sitzkombination zum Ausruhen ein. Hinter dem Sofa hing ein großformatiges modernes Ölgemälde, das einen Dahlienstrauß andeutete.
Das Hausmädchen hatte einen großen Schrank zu ihrer Rechten geöffnet, in den eine komplette kleine Küchenzeile integriert war. „Falls Sie sich mal einen Tee machen möchten, Madame. Selbstverständlich bringen wir Ihnen alles, was Sie wünschen, auch aufs Zimmer. Was es auch sein mag. Wählen Sie die Siebzehn.“ Virginie deutete auf ein Telefon beim Schreibtisch. Schnell durchquerte sie den Wohnraum und öffnete eine weitere Flügeltür zum angrenzenden Schlafzimmer.
Julia holte tief Luft, so beeindruckt war sie. Ein Himmelbett in zarten mediterranen Blautönen nahm den halben Raum ein, und Julia hatte nicht übel Lust, wie ein junges Mädchen vor Freude darauf herumzuspringen. Vom Bett aus blickte man über die bodentiefen Fenster auf das blinkende Mittelmeer. Angrenzend erspähte Julia ein schickes Badezimmer in weiß-grauem Marmor und Glas mit einer riesigen Badewanne. Sowohl vom Bad als auch vom Schlafzimmer aus gelangte man in einen weiteren Raum, einen begehbaren Kleiderschrank. Ihr eigenes Kleider zimmer !
Virginie hatte Julias Staunen registriert und grinste. „Wunderschön, nicht? Ich finde, Sie haben das schönste Gästezimmer im Haus“, strahlte sie Julia nicht ohne Besitzerstolz an. In diesem Moment hörten sie ein leises Klopfen. „Das wird Pierre mit dem Handgepäck sein. Soll ich Ihnen später beim Auspacken helfen, wenn Gerard mit dem großen Gepäck angekommen ist, Madame?“
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