1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Merkwürdig. Wieso sagte er nichts? Sie erinnerte sich an ihr eigenes peinliches Gestammel am Vorabend, das ihn so überheblich hatte schnauben lassen, und beschloss, ebenfalls nichts zu sagen. Vielleicht war er einfach schüchtern?
Die Stille war greifbar, und gleichzeitig spielten ihre überreizten Sinne ihr einen Streich. Sie nahm seinen männlichen Geruch wahr. Erdig. Er zog an seiner Zigarette, und als er den Rauch seitlich ausstieß, zwang Julia sich, den Blick von seinen herrlichen Lippen zu lösen. Wie es sich wohl anfühlte, diesen Mund zu küssen?
Das Poolwasser reflektierte die Morgensonne in seinen Augen und ließ seinen Blick noch intensiver leuchten. Oder bildete sie sich das nur ein? Sie nickte freundlich und ergriff das Handtuch. Dabei streiften ihre Hände kurz die seinen. Ein angenehmes Kribbeln zog sich ihren Arm hoch. Julia sah, wie sich seine Augen weiteten. Also musste er auch etwas gespürt haben.
Ihr Herz flatterte mittlerweile wie ein verschreckter Vogel. Die Sehnsucht ihres Körpers, von seinen Händen überall berührt zu werden, ließ sie fast ohnmächtig werden. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte ihre Arme um seinen Hals geschlungen und ihren nassen Körper an ihn gepresst. Aber ihre Vernunft, auf die seit jeher Verlass war, schaltete sich wieder ein. Was sollte das? Er war doch auch nur ein Mann. Seit wann führte sie sich so auf? War sie etwa nach Marcus so ausgehungert nach Aufmerksamkeit und Zuwendung, dass sie jetzt völlig den Verstand verlor?
Sie räusperte sich und strich ihre feuchten Haarsträhnen hinter die Ohren, um etwas Druck abzubauen. Dann wickelte sie sich mit zitternden Händen in das Handtuch und schlüpfte in ihre Flipflops. Mit einem weiteren vagen Nicken zu Mathieu hin steuerte sie auf den Plattenweg zu, der vom Swimmingpool zum Haus führte. Sein Blick brannte in ihrem Rücken, und sie unterdrückte den Impuls, sich noch einmal umzudrehen. Weshalb fiel gerades, entspanntes Gehen bloß so schwer, wenn man beobachtet wurde?
Sie hatte das Gefühl, zu taumeln, und konzentrierte sich auf ihr Gleichgewicht, den Blick fest auf die Platten gerichtet. Die wuchernden Pflanzen zwischen ihnen piksten ihre Füße in den Flipflops. In ihrem Kopf hämmerte es unablässig: „Er ist ein Mann, und du bist eine Frau!“
Beim Haus angelangt, erhöhte sie ihr Tempo, und als sie ganz sicher war, dass er sie nicht mehr sehen konnte, falls er ihr überhaupt so lange nachgeblickt haben sollte, rannte sie fast die letzten Meter bis zum Dahlienzimmer. Mit klopfendem Herzen schloss sie die Tür und lehnte sich von innen dagegen. Ein fast hysterisch klingender, abgehackter Laut entwich ihrer Kehle. Was um Himmels willen war hier gerade geschehen? Fast war sie wieder ärgerlich. So ein Spanner!
Weshalb hatte er nicht wenigstens „Bonjour“ gesagt?
Noch während sie das dachte, musste sie sich eingestehen, dass gerade diese Wortlosigkeit ihren Herzschlag erhöht hatte. Wenn sie darüber nachsann, war diese stumme Szene eben das Erotischste gewesen, was ihr bislang passiert war. Nicht zu vergleichen mit der eher sachlichen Zugewandtheit, die sie in den letzten Jahren mit Marcus geteilt hatte.
Schmunzelnd drückte Julia sich von der Tür ab und pellte sich aus ihrem feuchten Badeanzug. Noch unter der heißen Dusche spürte sie den feinen Vibrationen ihres Körpers nach. Das Lächeln blieb auf ihrem Gesicht.
Fast erleichtert beobachtete er, wie sie sich von ihm entfernte. Er sah ihren wiegenden Hüften unter dem Handtuch und den wohlgeformten Waden nach, als sie sich über den Plattenweg Richtung Haus begab. Kaum war sie außer Sicht, stieß er zischend die Luft aus, die er unbewusst angehalten hatte. Er fuhr sich mit beiden Händen in seine Haare und warf den Kopf in den Nacken, um seine angestauten Emotionen mit einem ungläubigen Schnauben in den blauen Himmel zu schicken.
Verflucht! So etwas war ihm noch nie passiert. Was hatte diese Frau an sich, dass er so extrem reagierte? Und warum wollte sein Körper nicht einsehen, dass er von dieser reichen Tussi nichts zu wollen hatte. Als er langsam zum Geräteschuppen zurückging, ertappte er sich bei einem Lächeln.
Julia trat gerade aus der Dusche, als es an ihrer Zimmertür klopfte. Ein Adrenalinstoß durchfuhr sie. In einem wahnwitzigen Gedanken wünschte sie, es wäre dieser geheimnisvolle Gärtner. Aber dann besann sie sich. So weit würde er sicherlich nicht gehen.
Sie warf sich einen Bademantel über und öffnete die Tür. Vor ihr stand ein massiger Typ mit kahl geschorenem Kopf. Er trug ein weißes T-Shirt und eine weiße Hose. An seinem rechten Oberarm lugte ein bläuliches Tattoo aus dem Ärmel. Sein auf den ersten Blick gefährliches Aussehen wurde allerdings durch sein freundliches Lächeln und sein sanftes Auftreten sofort gemildert.
„Bonjour, Madame. Ich bin Anatol. Möchten Sie eine Massage?“ Er sprach mit leicht russischem Akzent.
Julia blieb schon wieder der Mund offen stehen. Eine Massage? Für sie? Wow. Das wurde ja immer luxuriöser. Sie nickte, trat zur Seite und ließ Anatol ein, der ein Wägelchen hinter sich herzog. Von diesem hievte er eine zusammengeklappte Liege und baute diese in Julias Wohnzimmer auf. Er drapierte ein Kosmetiktuch auf der bagelförmigen Auflage für das Gesicht.
„Legen Sie sich bitte mit dem Gesicht nach unten auf die Liege.“
Julia war leicht verlegen, weil sie unter dem Bademantel nichts anhatte, und zögerte kurz. Anatol betrachtete sie lächelnd und reichte ihr dann einen hauchzarten Papierslip. Dankbar streifte sie diesen über und legte sich hin. Wenig später genoss sie wohlig seufzend die kundigen Griffe von Anatol, die ihre fliegenden Gedanken in einen ruhigen Strom kanalisierten. Wie herrlich so ein reiches Leben doch sein konnte.
Einen großen Café au Lait und ein Croissant später traf sich Julia mit Charles de Bertrand im Arbeitszimmer, einem luftigen Raum im ersten Stock, dessen Terrassentüren offen standen, sodass sich die cremefarbenen Vorhangschals leicht bauschten. Von draußen hörte man entfernt Stimmen.
Wie auch in der Villa in Zürich war der Raum dominiert von einem großen Schreibtisch, auf dem mindestens vier Monitore vor sich hin flimmerten. Ein großes Bücherregal befand sich rechts von ihm. Bei Julias Eintreten stand Charles, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, am Fenster und beobachtete irgendein Geschehen draußen.
Julia trat neben ihn und konnte weiter unten am Hang einen kleinen Laster sehen, von dem mehrere Arbeiter grob behauene Steine entluden. Als sie in einem von ihnen Mathieu erkannte, hämmerte unerklärlicherweise ihr Herz.
Charles wandte sich ihr zu und deutete auf die Sitzecke. „Lassen Sie uns dort Platz nehmen, das ist gemütlicher.“
Julia registrierte, dass Charles heute wohl keinen Rollstuhl benötigte und nur noch leicht hinkte. Stattdessen stützte er sich auf einen Gehstock aus blank poliertem, dunklen Holz.
Charles hatte Julias Blick bemerkt. „Anatol ist ein begnadeter Physiotherapeut. Allein deswegen hat sich die Reise gelohnt. Sie sehen ja die Fortschritte nach nur zwei Behandlungen.“
Julia nickte. Ja, dass Anatol heilende Hände hatte, konnte sie nur bestätigen.
Auf halbem Weg zur Sitzecke, neben der Tür, waren auf einem Sideboard mehrere Bilderrahmen mit Familienaufnahmen angeordnet.
„Schauen Sie ruhig, Julia“, gab Charles sein Einverständnis.
Julia betrachtete die Fotos aufmerksam. Sie konnte auf einem Bild den jüngeren Charles neben einer Frau entdecken. Vor ihnen standen zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen. Dem Mädchen, das zwei dicke Zöpfe trug und mit einem bezaubernden Zahnlückenlächeln in die Kamera strahlte, hatte Charles die Hände auf die Schultern gelegt. Der Junge, der recht selbstbewusst in die Kamera starrte, musste Philippe sein.
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