„Oh“, krächzte sie. Das durfte doch nicht wahr sein. Hatte sie tatsächlich „Oh“ gesagt? Das erste Wort, das sie seit Wochen an ihn richtete? Sie räusperte sich und straffte ihre Schultern. „Bonjour, Mathieu.“ Offen blickte sie ihn an und war erleichtert, ein wenig von ihrer Souveränität zurückerlangt zu haben.
Seine Worte hatten diesen lächerlichen stummen Bann gebrochen, der seit knapp drei Wochen über ihren Begegnungen lag, diese Magie, die zwischen ihnen geherrscht hatte. Das leichte Bedauern, das Julia darüber empfand, wischte sie energisch fort. Schließlich war das hier kein Kitschroman, sondern sie war eine moderne, hübsche Frau und er ein höllisch attraktiver Mann.
Er schien ebenfalls darüber froh zu sein, denn ein erleichtertes kurzes Schnauben entfuhr ihm, bevor er sie freundlich anlächelte. Julia überlegte fieberhaft, wie sie eine unbefangene Unterhaltung mit ihm beginnen könnte.
„Du bist Landschaftsarchitekt?“, war die erste, denklogische Frage, die ihr in den Sinn kam.
Erstaunt blickte er sie an. „Ja, ich habe den Auftrag, das Anwesen umzugestalten.“ Er deutete mit einer umfassenden Geste auf die Pflanzen um sie herum.
„Und was hast du geplant?“, fragte sie aufrichtig interessiert.
Er fuhr sich mit der Hand durch die braunen Locken und überlegte einen Augenblick.
„Das kann ich so nicht erklären. Ich würde es dir gerne zeigen. Aber du solltest dir vorher trockene Sachen anziehen. Sonst holst du dir den Tod.“
Das klang so unerwartet vernünftig. Julia musste grinsen. „Wartest du hier?“, erkundigte sie sich.
„Das geht leider nicht, es kommt gleich eine Gruppe von Arbeitern, die ich einweisen muss. Du kannst mich ja suchen.“ Er blickte sie herausfordernd an.
„Okay, bis gleich“, sagte sie nur und wandte sich Richtung Plattenweg.
„Bis gleich, Julia“, hörte sie ihn flüstern. Sie entfernte sich rasch und musste an sich halten, nicht zu laufen. Eine unglaubliche Euphorie durchflutete sie.
Sie hatte ein Date! Mit Mathieu! Zugegeben, es war kein richtiges Date, aber es fühlte sich einfach so an.
Mathieu sah Julia nach. Wie schön sie war. Er liebte es, wenn Frauen natürlich aussahen. Seit die Neureichen Roquebrune für sich entdeckt hatten, war es ungewöhnlich, hier einer Frau zu begegnen, die nicht durchgestylt und schmuckbehangen oder zumindest stark geschminkt war.
Er drehte sich um und betrachtete eine Weile nachdenklich die vom Wind sanft gewellte Oberfläche des Wassers. Ein leichtes Lampenfieber wallte in ihm auf. Wollte sie tatsächlich wissen, welche Pläne er für den Garten hatte? Oder war das nur eine Tour, ihn ins Bett zu bekommen? Das alte Gefühl der Bitterkeit stieg in ihm hoch. Er schluckte es schnell hinunter, denn er begriff schlagartig, dass ihm das herzlich egal war. Er wollte sie auch, egal aus welchen Motiven.
Seit vier Uhr heute früh hatte er sich im Schlaf gewälzt und an sie gedacht. An ihre wiegenden Hüften, ihre Gänsehaut unter den Trägern ihres Badeanzuges, ihre katzenhaften grauen Augen. Sein Körper brannte von diesen Bildern und schrie nach Erleichterung.
Mathieu wusste, er durfte keinem erzählen, dass er seit knapp drei Wochen jeden Morgen um kurz vor sieben Uhr im Gärtnerschuppen herumkramte, um sie nur ja nicht zu verpassen. Dabei war er sich nach der ersten Begegnung nicht einmal sicher gewesen, ob sie am nächsten Tag wieder schwimmen würde. Jedes Mal, wenn er ihr gleichmäßiges Plätschern vernahm, verdichteten sich alle seine Sinne auf dieses Geräusch und die damit verbundene Vorstellung von ihrem Körper im Wasser.
Fast eine Ewigkeit verharrte er beim Poolhaus und genoss das lebendige Gefühl, das über ihn kam. Über sich selbst belustigt, gestand er sich ein: Er war verknallt. Verknallt, craquer, fou . Dieses Wort hatte er seit der Schule nicht mehr gebraucht. Aber einen anderen Begriff dafür, dass sie ihm ständig im Kopf herumspukte und er ihre Nähe suchte, gab es nicht. Oder doch?
Wieder wallte die Panik in ihm auf. Er verdrängte den Gedanken an Céline. War er dabei, den gleichen Fehler noch einmal zu begehen? Nein! Sicherlich war es nur körperliches Verlangen. Was auch sonst? Die Frauen, die er in seinem Leben begehrt hatte, hatte er in der Regel auch bekommen. Es war leicht. Irgendwann hatte er festgestellt, dass es ausreichte, mit einer Zeitung im Café zu sitzen und eben nicht zu lächeln. Seltsamerweise schien gerade das die Frauen anzuziehen.
Sein Freund Fredo, der bei Frauen sämtliche Register seines Charmes spielen ließ, war schier verzweifelt. „Wie machst du das nur?“, hatte er ihn immer wieder gefragt, wenn ein hartnäckiges weibliches Wesen sich mit eindeutigen Signalen in der Nähe seines Tisches positioniert hatte.
Mathieu konnte nur mit den Achseln zucken. Er wusste, er war keine Schönheit. Sein Gesicht war eher rau und markant. Seine Mimik nachdenklich bis abweisend. Aber gerade das schien die Frauen anzuziehen wie ein Honigtopf die Bären. Das und sein Desinteresse.
„Weniger ist mehr“, hatte Mathieu damals versucht, Fredo als Tipp an die Hand zu geben.
Fredo war es allerdings nicht gelungen, diese Philosophie umzusetzen. Sobald er eine Frau attraktiv fand, rutschte er unruhig umher wie ein Pennäler. Er konnte es einfach nicht lassen, zu lächeln, zu schauen, zu flirten. Seine gesamte Körpersprache war so offensichtlich, dass er auch gleich ein T-Shirt mit der leuchtenden Aufschrift „Ich will Sex“ hätte tragen können.
Mathieu jedenfalls musste mehrfach schallend lachen, wenn die Frauen vor Fredo die Flucht ergriffen und dieser verzweifelt überlegt hatte, worin sein Fehler diesmal gelegen hatte. Weshalb die Frauen gerade auf Typen abfuhren, die sie nicht wollten, würde Mathieu nie verstehen. Und das betraf nicht nur die Frauen an der Côte d’Azur. Dieselbe Erkenntnis hatte er auch während seiner Studienjahre in Paris und während seiner praktischen Zeit in England vertiefen können.
Auf jeden Fall hatte Mathieu sich zeit seines Erwachsenenlebens nicht über weibliche Zuwendung beklagen müssen. Aber so sehr die wenigen Frauen, denen er nachgegeben hatte, sich auch bemühten, sie hatten sein Herz nicht erreicht. Bei zweien hatte er kurz gedacht, er wäre verliebt.
Die durchgeknallte Lisa in Paris hatte ihn anfangs sogar stark fasziniert. Sie war ein verrücktes Huhn gewesen. Eine Kunststudentin, die durch das nächtliche Paris gestreift war, um ihre Street Art an Brücken und Häuserwände zu verewigen. Dass ausgerechnet Lisa nach wenigen Wochen Beziehung anfing, zu klammern und zu einem extrem häuslichen Typen mutiert war, der am liebsten DVD-Abende zu zweit veranstaltete, hatte er nicht erwartet. Abstand zu Lisa zu schaffen, war auch eines der Motive gewesen, weshalb er sich für ein Auslandspraktikum bewarb.
Charlotte war seine Chefin beim Gartenbaupraktikum im südenglischen Cheltenham gewesen. Sie war eine typische Engländerin, und zum ersten Mal war es ihm ergangen wie den Frauen anscheinend bei ihm. Sein Ehrgeiz, diese spröde Frau zu knacken und ihr ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern, war geweckt gewesen. Nächtelang hatte er Strategien ersonnen, wie er sie von sich überzeugen könnte. Merkwürdigerweise war seine Leidenschaft schlagartig abgekühlt, sobald er sie endlich erobert hatte. Das „Projekt Charlotte“ war, so sehr er sich auch dafür schämte, sie zu verletzen, rasch abgehakt. Erleichtert hatte er den Ablauf seiner Zeit in England vorgeschoben und Charlotte zurückgelassen.
Seither waren immerhin zwölf Jahre vergangen, und er trat in der Liebe immer noch auf der Stelle. Fredo war seit einer Ewigkeit mit der drallen, rothaarigen Joline verheiratet und Vater von ebenso drallen, rothaarigen Zwillingen. Manchmal hatte Mathieu den Eindruck, Fredo bemitleidete ihn. Dabei fehlte Mathieu nichts. Im Gegenteil. Er hatte sich die letzten Jahre auf den Aufbau seiner Selbstständigkeit konzentriert. Oft hatte er alleine in den Abendstunden noch in den Gärten gearbeitet, während seine Kollegen zu ihren Familien heimgekehrt waren. Selbstständigkeit erforderte eben einen enormen zeitlichen Einsatz, und er war erleichtert, sich nicht gegenüber einer Frau rechtfertigen zu müssen, dass er diesen erbrachte.
Читать дальше