McKenzie liess die letzte empörte Bemerkung, die den erfahrenen Whiskytrinker erkennen liess, unkommentiert, machte sich ein paar Notizen von dem Gesagten und klappte ihren Laptop zu. Auf zu einem kleinen Trip nach Poolewe. Das kam ihr gerade recht, schliesslich war es noch nicht lange her, dass ein wochenlanger Dauerregen einem die Laune gründlich verdorben hatte. Obwohl sie selbst aus Achnasheen stammte und sie seit ihrer Kindheit an das raue Highland-Klima gewöhnt war, hatten die kalten Temperaturen und die Feuchtigkeit in diesem Sommer auch ihre fröhliche Laune beeinträchtigt. Eine kleine Ausfahrt in ihrem Fiat, und wenn es auch nur zur Besichtigung einer Leiche ging, konnte da nicht schaden.
Sie ging nach draussen, wo zwei Uniformierte sie bereits erwarteten. PC Smith und PC Purdy freuten sich ebenfalls auf die Fahrt, auch wenn einer von ihnen hinten auf dem Rücksitz Platz nehmen musste, weil die Chefin selbst fahren wollte. Aber die Besichtigung eines Mordschauplatzes versprach interessant zu werden, und im Übrigen erlöste es sie davon, einen Bericht über eine Schlägerei zu verfassen, welche vor drei Tagen im örtlichen Pub stattgefunden hatte. Den Tathergang aufzunehmen und die verschiedenen Aussagen zu bündeln, war geradezu sensationell langweilig.
McKenzie war eine gute Autofahrerin, und sie genoss den Weg von Gairloch bis in das kleinere Poolewe durch die menschenleere hügelige Landschaft in vollen Zügen. Wobei – menschenleer war die Landschaft nicht. Auf der Passhöhe hatten sich ein paar Camper häuslich in ihren Zelten eingerichtet.
„Ganz schön mutig von denen, wenn man bedenkt, dass sie in der letzten Woche zu ertrinken drohten!“, bemerkte sie. „Ich glaube nicht, dass das meine Vorstellung von erholsamen Ferien wäre, bei Wind, Regen und Nebel mitten im Sommer da oben zu übernachten. Hoffentlich haben sie wenigstens warme Sachen dabei.“
„Sind wahrscheinlich vom Kontinent, oder es sind Engländer.“ Das war Smith. Er hatte nichts übrig für Romantiker und Touristen, meist in Personalunion. Das eine war so schlimm wie das andere. Er ging mit seiner Maud jedenfalls immer an die Costa Brava, wo sie in der Sonne am Strand liegen und würzigen spanischen Wein trinken konnten.
Purdy auf dem Rücksitz hatte noch andere Bedenken. „Meinen Sie, die haben etwas mit dem Mord zu tun?“ Bei all den Fremden im Sommer konnte man ja nie wissen, ob sich nicht das eine oder andere merkwürdige Subjekt darunter befand. PC Purdy war das konservativste Teammitglied und hatte all die Veränderungen, die das Hochland in den letzten Jahren durchgemacht hatte, mit Zurückhaltung aufgenommen.
„Ich glaube kaum, dass sie dann noch hier wären, Michèle“, meinte McKenzie. „Oder denken Sie, sie würden seelenruhig beim Fischen auf uns warten?“
Purdy schwieg beleidigt und nahm sich vor, die Camper trotz allem zu überprüfen. Vielleicht waren es die Schläger vom Pub. Aber sicher hatten sie mindestens keine Fischerlizenz, so gab’s vielleicht da etwas zu holen. Das Bussensoll für diesen Monat war noch nicht erfüllt.
In Poolewe bog McKenzie vor der Brücke links auf die Dorfstrasse ab. Sie mussten ja noch im Pub vorbei, um den Schlüssel von Heather Cottage abzuholen und zudem mussten sie die Zeugin, die die Leiche gefunden hatte, vernehmen.
Mrs. McKay hatte trotz der kurzen Zeit, die seit ihrem Anruf bei der Polizei verstrichen war, schon wesentlich mehr als nur einen Whisky intus, als die drei Polizisten das Pub betraten und sich nach ihr umblickten. Aber sie erhob sich ohne zu schwanken und trat den Hütern des Gesetzes mit sicheren Schritten entgegen.
„Guten Tag.“ McKenzie blickte auf ihren Notizzettel. „Penelope McKay, nicht wahr? Sie haben die Leiche gefunden?“
„Jawohl. Und ich habe zu Malcolm hier gesagt, nie im Leben hab’ ich was ähnlich Schreckliches gesehen, hab ich gesagt. Jawohl. Der arme Mr. Ruaridh! Und sein Gesicht! Oder was davon übrig ist! Einfach schrecklich. Ganz blutig war’s, und ein Auge…“
„Wann haben Sie die Leiche gefunden?“ McKenzie unterbrach die Litanei, bevor Mrs. McKay noch weitere deftige Einzelheiten zum Besten geben konnte.
„Ja, um 13 Uhr. Ich bin wie immer um diese Zeit am Mittwoch beim Cottage eingetroffen. Ich habe jetzt zwölf Jahre bei Mr. Ruaridh gearbeitet, und nicht ein einziges Mal bin ich unpünktlich gewesen! Diese jungen Dinger von heutzutage – Raumpflegerinnen nennen sie sich ja wohl –, die wissen überhaupt nicht, was Verlässlichkeit bedeutet! Mr. Ruaridh hatte nie Anlass, sich über mich zu beklagen, ich bin immer pünktlich gekommen, ob’s nun geregnet oder geschneit hat. Sogar wenn’s eisig war…“
„Aber den Anruf haben Sie erst –“, ein weitere Blick auf den Notizzettel –, „um 13.40 Uhr getätigt. Was haben Sie so lange am Tatort gemacht?“
Mrs. McKay schnappte nach Luft. „Na hören Sie mal, Inspektor, ich hatte einen Schock! Zuerst bin ich ja reingekommen, das dauerte wohl zwei Minuten. Dann bin ich in die Küche gegangen und habe meinen Mantel und die Tasche auf den Tisch gelegt. Dann habe ich mich umgedreht, und da habe ich ihn gesehen.“
„PS Gilchrist haben Sie gesagt, Sie seien mit dem Fuss gegen die Leiche gestossen, als Sie in die Küche gegangen sind.“
“Ja, das stimmt. Aber erst habe ich den Mantel ausgezogen und die Tasche auf den Tisch gelegt, wie ich gesagt habe. Und dann bin ich um die Theke gebogen – Sie müssen wissen, Mr. Ruaridh hat da so eine neumodische Einrichtung. Nicht wie wir, wir haben den Tisch direkt vor dem Herd. Aber Mr. Ruaridh hat eine halbhohe Wand vor seinen Kochherd gebaut – Frühstückstheke sagt er dem wohl. Und da hat er gelegen – zwischen der Wand und dem Herd.“
„Also konnten Sie ihn gar nicht sehen, als Sie vom Flur in die Küche gegangen sind?“
„Nein, sag ich ja. Erst als ich um diese Wand rumgegangen bin und mit dem Fuss gegen den Körper gestossen bin…“ An dieser Stelle zitterte Mrs. McKays Stimme leicht.
McKenzie kam auf die Zeitfrage zurück. „Sie haben also die Leiche gefunden, oder sagen wir, Sie haben geglaubt, den ohnmächtigen Mr. McDougal vor sich zu haben. Was haben Sie dann gemacht?“
„Ja also, wissen Sie. Ich bin ja kurzsichtig. Ich hab gedacht, er wäre wohl ohnmächtig geworden. Ich hab ihn etwas geschüttelt, aber als er sich nicht bewegt hat, hab ich meine Brille geholt…“
„Sie haben was?“ McKenzie hoffte, ihre Stimme töne nicht so entgeistert, wie sie sie selber gerade empfand.
„Ich bin zum Tisch und meiner Tasche gegangen und habe meine Brille geholt. Ich sehe sonst nicht so gut. Und als ich sie dann aufgesetzt hatte und zurückgegangen bin, da habe ich ihn umgedreht und da habe ich, nun ja, gesehen, dass er kein Gesicht mehr hatte. Da wurde mir ein bisschen schlecht, und ich musste mich setzen.“
Als die drei Polizeibeamten wieder im Auto sassen, holte Smith als erster Luft. „Das alte Mädchen ist ja nicht ganz dicht. Holt die Brille, um sich die Leiche zu begutachten! Und ich wette, sie hat danach den Alkoholvorrat von Ruaridh McDougal geplündert, bevor sie zum Telefonhörer gegriffen hat.“
„Ja, über diese halbe Stunde mache ich mir auch Gedanken. Wer setzt sich schon an den Küchentisch und wartet mindestens zwanzig Minuten, bevor er die Polizei ruft, wenn er einen Mord entdeckt?“
„Denken Sie, sie könnte vor Schreck ohnmächtig geworden sein?“ Mrs. McKay war immerhin eine Einheimische, und Purdy hielt ihr das zugute. Eine Lady von über siebzig Jahren! Sie konnte sich gut vorstellen, dass die Putzfrau den Schreck ihres Lebens erhalten hatte, als sie ihren Arbeitgeber so daliegen sah. Vielleicht hatte sie sich wirklich zuerst erholen müssen, bevor sie ihre Bürgerpflicht erfüllen konnte.
McKenzie äusserte sich nicht weiter dazu, sondern wendete den Wagen und fuhr zurück zur Hauptstrasse. Heather Cottage befand sich etwa eine Meile am rechten Ufer des Ewe entlang. Rund hundert Schritte von der geschotterten Strasse auf der linken Seite glitzerte das Wasser zwischen den Bäumen hindurch im Sonnenlicht. Eine richtige Idylle!, dachte McKenzie, bevor sie auf den Parkplatz vor dem Cottage einbog und den Motor ausschaltete.
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