Jennifer saß an der Bar und sah zu mir hinüber. Ihr Blick verriet mir, dass ihr meine Verspätung wohl nichts ausmachte. Sie hatte sich schon ein Getränk bestellt, einen Martini vermutete ich. Als ich näher kam, sah ich in ihrem Gesichtsausdruck, dass gleich eine Flut von Fragen mich überschwemmen würde. Hoffentlich gelang es mir an der Oberfläche zu bleiben und nicht jämmerlich zu ersaufen.
»Hallo, da bin ich«, sagte ich ein wenig verlegen.
»Wird ja auch Zeit«, warf sie mir an den Kopf, aber zwei Sekunden später zeigte sie zu meinem Glück ein leichtes Lächeln. Gleich würde sie loslegen: Wer bist du in Wirklichkeit? Wer war die Kreatur in dem Büro von Giller? Was wird hier gespielt, Bill? Hast du mich die ganzen Jahre über angelogen? Kann ich dir jemals wieder vertrauen?
»Trinkst du etwas?«, fragte sie mit sanfter Stimme.
Ich musste sie wohl verdutzt angestarrt haben, denn sie fragte sofort: »Hast du irgendetwas, Bill?«
»Nein«, schüttelte ich den Kopf.
Ich stellte die Laptoptasche auf dem Boden vor der Theke ab und nahm links neben Jennifer Platz.
»Ist das jetzt die Antwort auf meine erste oder zweite Frage?« Sie zog die Augenbrauen hoch.
Ich lächelte und sagte, als ich gleichzeitig nach der Getränkekarte griff: »Ich werde mir einen Cocktail bestellen, und es ist alles in Ordnung.«
Ich lehnte mich zurück und studierte die Karte. Obwohl Jennifer, wie ich vermutete, massenweise Fragen auf den Lippen lagen, schwieg sie und ließ mich in Ruhe einen Cocktail aussuchen.
Der Barkeeper kam auf uns zu, und ich bestellte einen Snowball.
»Gute Wahl«, sagte Jennifer.
Wir beobachteten wie der Barkeeper Eiswürfel, Zitronensaft, Zucker und Whisky in einen Shaker gab und ihn kräftig schüttelte.
»Hätte mir statt einen Martini besser auch einen Cocktail bestellt«, sagte sie.
»Kannst dir ja danach noch einen Cocktail bestellen.«
»Okay«, gab sie mir zu verstehen, als der Barkeeper mit dem großen Becherglas Snowball ankam.
»Ihr Drink«, sagte der Barkeeper.
»Danke«, nickte ich ihm leicht zu.
Ich stieß mit Jennifer an.
»Der ist verdammt gut«, schwärmte ich und stellte das Glas wieder auf der Theke ab.
»Und?«, fragte sie nur.
Der Barkeeper bereitete zwei weitere Cocktails zu. Vermutlich für die beiden Gäste am Tisch rechts hinter uns.
»Das Zimmer ist hervorragend«, lenkte ich ab und warf einen kurzen Blick zum Barkeeper hinüber.
»Ja«, sagte Jennifer langsam und merkte wohl, dass ich wegen dem Barkeeper nicht näher auf ihre Frage eingehen wollte.
Wir beobachteten stumm, wie der Barkeeper einen Caipirinha und einen Sunrise zubereitete. Als er die Cocktails auf ein Tablett stellte und an den Tisch brachte, fragte ich: »Was willst du denn wissen?«
»Alles«, sagte sie leise. »Ich will alles wissen.«
»Okay«, flüsterte ich und griff nachdenklich nach meinem Cocktail, dann erzählte ich ihr, wie ich mein Gedächtnis verloren hatte. Obwohl sie das ja bereits wusste, unterbrach sie mich nicht.
Als ich einen Blick zurück über die Schulter warf, sah ich, wie der Barkeeper durch die Tür verschwand.
Dann erzählte ich kurz von der Katastrophe im Verlag und kam schnell auf mein Erlebnis mit Tricia im Aufzug zu sprechen. Jennifer erfuhr von mir, dass dort ein Monster versucht hatte, Tricia in den Spiegel hineinzuziehen.
»Und warum hatte Tricia nichts davon gesagt?«, unterbrach sie mich, als ich ihr gerade von dem Vorfall mit dem Privatdetektiv John Smith erzählen wollte.
»Sie hatte das Bewusstsein verloren«, antwortete ich kurz.
Der Barkeeper kam pfeifend mit zwei Flaschen Rum zurück.
Jennifer trank ihren Martini aus und griff nach der Getränkekarte.
»Passt bei Ihnen noch alles?«, fragte der Barkeeper freundlich, als Jennifer die Karte beiseite gelegt hatte.
»Einen Blackest Russian«, bestellte sich Jennifer.
»Wow«, sagte ich nur.
»Ja, nach deinen Geständnissen brauche ich einen stärkeren Drink.«
Der Barkeeper schaute mir kurz vorwurfsvoll in die Augen, dann fragte er mich: »Möchten Sie auch noch etwas bestellen?«
»Einen Tequila Caliente, bitte.«
Der Barkeeper nickte mir zu und machte sich an die Arbeit.
»Hast aber einen guten Schluck drauf«, lächelte Jennifer breit.
»Schmeckt mir«, nickte ich.
Mist , dachte ich, ausgerechnet jetzt bekomme ich wieder diese verdammten Kopfschmerzen. Ich werde sie einfach nicht los.
»Ist was, Bill?«, fragte Jennifer.
»Wieder diese blöden Kopfscherzen«, sagte ich.
»Hast du keine Tabletten?«
»Oben im Zimmer vergessen.«
Jennifer öffnete ihre Handtasche und gab mir eine Schmerztablette.
»Danke.«
Ich ließ mir vom Barkeeper ein Glas Wasser geben, dann deutete ich auf den Tisch in der hinteren Ecke.
»Sollen wir uns dorthin setzen?«, fragte ich.
Jennifer nickte mir zu.
Wir warteten geduldig auf unsere Cocktails und beobachteten den Barkeeper bei der Zubereitung des Blackest Russian. Er füllte Tequila, Johannisbeerlikör, Limettensaft, Grenadine und Eiswürfel in ein Becherglas und verrührte es. Dann gab er einen Schuss Sodawasser dazu.
»Wenn ich wieder zu Hause bin, muss ich unbedingt so ein Cocktailseminar besuchen«, schwärmte ich Jennifer vor.
»Ja, das wäre bestimmt interessant und lustig«, lächelte Jennifer vergnügt »Da mache ich sofort mit«, ergänzte sie.
Der Barkeeper bereitete den Tequila Caliente zu und gab Kaffeelikör und Wodka in ein kleines Becherglas, ließ die Eiswürfel vorsichtig hineingleiten und rührte das Ganze mit dem Barlöffel um. Zack, den Trinkhalm ins Glas und fertig war der Cocktail.
»Bitte sehr«, sagte er.
»Vielen Dank«, nickte Jennifer.
»Danke«, sagte ich und schnappte mir anschließend die Laptoptasche.
Zusammen mit den Cocktails gingen wir an den ausgesuchten Tisch. Hier saßen wir etwas ungestörter, außer Hörweite des Barkeepers und der beiden Gäste am Tisch.
Jennifer probierte ihren Cocktail.
»Super«, schwärmte sie und verdrehte leicht die Augen. »So, Bill, jetzt will ich aber alle Informationen von dir bekommen!« Ihre Stimme klang sanft aber fordernd.
Ich erzählte ihr etwas über den Privatdetektiv John Smith und wie er Anfang der Woche mit einem Aktenkoffer vor meiner Haustür gestanden hatte.
Jennifer hörte mir aufmerksam zu.
Dann erzählte ich ihr von meinen Fundstücken und was ich bis zum derzeitigen Zeitpunkt darüber erfahren hatte. Sie hörte mir sehr interessiert zu und unterbrach mich mit der Frage: »Wäre es vielleicht denkbar, dass die technischen Geräte für deine Kopfschmerzen oder das Brummen in deinem Kopf verantwortlich sind?«
Ich stutzte und schlürfte an meinem Cocktail.
»Entschuldigung«, sagte ich gedankenvoll. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, antwortete ich auf ihre Frage.
An der Geschichte mit dem goldenen Medaillon war sie sehr interessiert und wollte unbedingt wissen, wie es mir gelungen war, in diese Bank einzudringen. Ich erzählte ihr von dem Brief, der mit Geheimtinte geschrieben war, und dem Schließfachschlüssel mit der Nummer 418.
Dann erfuhr ich von Jennifer, dass ihr früher schon so manche Dinge an mir geheimnisvoll vorgekommen waren. Ihre Stimme klang leicht wütend. Welche Dinge meinte sie wohl? Ich wollte sie später danach fragen. Dann machte sie mir Vorwürfe, weil ich sie die ganze Zeit über angelogen hatte.
Ich bemerkte, wie sich ein Gefühl der Unruhe in ihre Wut mischte. Was sollten die Vorwürfe? Ich hatte sie keineswegs angelogen. Obwohl ich doch zugeben musste, dass ich mich ihr wesentlich früher hätte anvertrauen sollen.
»Entschuldigung«, sagte sie leise. »Eigentlich habe ich kein Recht dazu ...«
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