Dann kam Stasia ins Teenageralter. Mit dreizehn Jahren war sie in ihrer körperlichen Entwicklung weiter als andere Mädchen in ihrem Alter. Sie liebte es, sich heimlich zu schminken. In dieser Zeit trugen die Damen einen dicken Lidstrich, den Stasia mit Wasserfarbe aus dem Malkasten gekonnt auftrug. Auf die Wimpern trug sie mit einem Bürstchen Schuhcreme auf, und die überlangen Fingernägel wurden aufwendig rot lackiert. Dafür hatten die Eltern gar kein Verständnis. Frauke und Stefan beobachteten das mit Unmut und verboten ihr, mit ihrem Make-up auf die Straße zu gehen. Doch ab und zu, wenn beide Eltern aus dem Haus waren, trat sie stolz und selbstbewusst geschminkt auf die Straße. Den Rock wickelte sie am Taillenbund hoch, so dass ihre Knie frei blieben. Der Modetrend in den sechziger und siebziger Jahren war auch damals ziemlich figurbetont und frech. Die Frauen trugen sehr kurze Miniröcke, dazu Schuhe mit schwindelerregend hohen Absätzen, Plateausohlen von manchmal bis zu zehn Zentimetern Höhe. Stasia konnte das sehr gut tragen. Sie sah fast erwachsen aus, war langbeinig und schlank. Das goldene naturblonde fast hüftlange Haar trug sie meist offen. Ihre Mitschülerinnen waren oft neidisch auf ihr Aussehen. Doch während der Unterrichtspausen ließen sich einige gerne von Stasia beraten und schminken.
Es kam manchmal vor, dass Jungs in den Parallelklassen mit einem blauen Auge herumliefen, da Bruder Henry streng über Sitte und Moral seiner Schwester wachte. Jeder, der an Stasia interessiert war, musste mit Henrys Missfallen rechnen. Das gefiel Stasia gar nicht. Um ungestört mit Verehrern zu plaudern, ging sie öfter mit ihren Freundinnen im Sommer in den Nachbarort ins Freibad. Dort kannte man sie nicht, und sie konnte öffentlich und ohne Beaufsichtigung des Bruders mit den älteren Jungs flirten und schäkern. Da sie sich als Sechzehnjährige ausgab, auch so aussah, war es kein Problem für sie, beim Schwimmbadbesuch zu Partys, die damals in dafür eingerichteten Partykellern stattfanden, eingeladen zu werden. In dieser Zeit wollte fast jeder Jugendliche einen Partyraum im Keller der Eltern haben. Ungestört konnten die Jugendlichen die laute „Beatmusik” der damaligen Zeit hören. Den Eltern war das willkommen, da zu dieser frühen „Popzeit” die meisten Erwachsenen noch nicht offen waren für diese fremd klingende Art von Musik.
Stasia hatte einen Verehrer mit Partykeller. Er war sechzehn Jahre alt und verliebt in Stasia. Bei sonnigem warmem Wetter traf sich Stasia zusammen mit ihrer Freundin mit den Jungs aus dem Nachbarort. Gelangweilt lagen sie auf der Wiese im Schwimmbad in der Sonne. Martin, ihr Verehrer, schlug vor:
„Wir könnten alle zusammen zu mir nach Hause in meinen Partykeller gehen. Meine Eltern sind heute den ganzen Tag über weg, dann können wir ein bisschen feiern.”
„Ja, Getränke und Zigaretten können wir unterwegs im Kiosk kaufen, nichts wie los!”
Die Gruppe war sich einig, und sie freuten sich. Schnell wurden die Badesachen zusammengepackt, und jeder schwang sich auf sein Fahrrad. Unterwegs kauften sie Coca Cola, Rum und Zigaretten. Der Partykeller war abgedunkelt, kein Tageslicht drang in den Raum, und Martin legte laut dröhnende Musik auf den Plattenspieler auf, von den Beatles, den Rolling Stones und Janis Joplin. Die Paare tanzten eng miteinander. Auch Martin presste Stasia eng an sich. So eng, dass Stasia kaum atmen konnte und sich abrupt aus dieser körperlichen Umklammerung von Martin befreite. Die gedankliche Reife des Mädchens war noch nicht im Einklang mit der körperlichen Reife. Sie wusste Bescheid, dass durch sexuellen Verkehr ungewollte Kinder kommen können, und dass es schlimm sein musste, in ihrem Alter schwanger zu werden. Flirten war gut, aber körperliche Annäherungen konnte und wollte sie nicht noch einmal erleben. Immer noch quälten sie die schrecklichen Erinnerungen. Immer noch fühlte sie den heißen übel riechenden Atem von Herrn Munster über ihr Gesicht streifen. Mehrfache nächtliche Alpträume quälten sie. Oft war sie nachts schreiend aufgewacht, während Mutter Frauke ihr ratlos die Hand hielt, bis sie wieder eingeschlafen war.
„Was ist los, Stasia? Warum stößt du mich weg?”
Martin tat überrascht. Wieder wollte er Stasia an sich drücken und versuchte dabei mit seiner Hand unter ihre Bluse zu gelangen.
„Stell dich nicht so an, komm schon!”
Sein nach Alkohol riechender Atem stieß sie ab. Heftig stieß sie Martin von sich und rannte aus dem Keller auf die Straße. In ihrer Panik vergaß sie, dass ihre Freundin noch im Partykeller war. Doch die hatte die Flucht von Stasia beobachtet und eilte ihr hinterher. Nach diesem Erlebnis wollte Martin natürlich nichts mehr von Stasia wissen. Schnell hatte er sich mit einem anderen Mädchen getröstet. Als Stasia dies traurig sah, mied sie für den Rest dieses Sommers das Schwimmbad. Eines Tages, Stasia war gerade auf dem Heimweg von ihrer Turnstunde, stand ein Freund von Henry plötzlich vor ihr und versperrte ihr den Weg. Die Dunkelheit war eingebrochen und die Straßenbeleuchtung schwach. Stasia erschrak.
„Hallo Süße, ich bin dir von der Turnhalle aus gefolgt. Ich weiß, dass du jeden Donnerstag zum Turnen gehst.”
„Ach ja? Und warum folgst du mir?”
Stasia fühlte sich unbehaglich. Ja, sie kannte den Jungen, oft hatte er sie während seiner Besuche bei ihrem Bruder beobachtet.
„Ich weiß doch, auf was du stehst. So, wie du aussiehst, wartest du doch nur darauf, dass ein Junge dich küsst.”
Er hielt Stasia an ihren Armen fest und versuchte sie zu küssen. Angewidert stieß sie den Jungen von sich weg und rannte davon. Henry saß mal wieder auf der Treppe vor der Haustür, weil er, wie so oft, seinen Hausschlüssel im Haus vergessen hatte und die Eltern weg waren. Sofort erkannte er die Situation. Stasia kam atemlos angerannt, dahinter sein vermeintlicher Freund.
„Ist der Teufel hinter dir her, was ist los Stasia?”
Panikartig zeigte sie auf den Jungen, der ihr folgte. Henry überlegte nicht lange, lief dem Jungen entgegen und schnell – ganz ohne Vorwarnung – schlug er dem Jungen auf die Nase, der danach blutend und jammernd auf der Straße lag.
„Lass dich ja nicht mehr bei uns blicken. Wir sind keine Freunde mehr”, rief Henry zornig. Die Geschwister gingen in die Wohnung. Nach einem längeren Gespräch über Jungs erzählte Stasia stockend und peinlich berührt von ihrem Erlebnis mit Herrn Munster. Einige Jahre waren vergangen, die Ehefrau von Herrn Munster war mittlerweile verstorben und er danach mit unbekanntem Ziel weggezogen. Henry hörte aufmerksam zu. An diesen Tag konnte er sich noch sehr gut erinnern. Doch damals war ihm nichts Beunruhigendes aufgefallen. Er war damals selbst erst vierzehn Jahre alt gewesen. Er versuchte die weinende Stasia zu trösten, und beide schworen Rache für sie.
„Wenn ich dieses Schwein erwische, dann gnade ihm Gott.”
Henry war sichtlich erschüttert, und es traf ihn tief in sein Innerstes, dass er damals von dieser Niedertracht nichts gemerkt hatte. Er hätte ihn niedergeschlagen, auch wenn er noch sehr jung gewesen war.
„Sind denn alle Jungs und Männer gleich? Es ist einfach widerlich.”
Henry, selbst ein Mann, verteidigte die männliche Ehre:
„Nein Schwesterherz, nicht alle sind so. Es gibt auch nette, wie mich und Papa. Du musst einfach vorsichtiger sein. Manche Männer sind eben nur schwanzgesteuert und können nicht anders, wenn sie eine hübsche Frau sehen.”
2. Kapitel „Die Abrechnung”
Weitere Jahre vergingen. Stasias achtzehnter Geburtstag sollte mit Freunden aufwendig gefeiert werden. Mit viel Liebe und Arbeit hatte Frauke kleine Köstlichkeiten für den Abend vorbereitet. Henry hatte für die Getränke zu sorgen. Das Fest sollte um sechs Uhr abends anfangen. Als Henry nicht rechtzeitig eintraf, war die Familie in Sorge, was wohl passiert sein könnte, da er ansonsten absolut zuverlässig war. Als die Gäste kamen, war Henry immer noch nicht angekommen. Mutter und Vater wurden unruhig. Etwa eine Stunde nach Ankunft der Partygäste klingelte es, und zwei Polizeibeamte standen mitten unter den jugendlichen Gästen im Raum und baten die Eltern, mit zur Polizeistation zu kommen. Alle Anwesenden waren über den Polizeieinsatz verwundert, und das Fest wurde abgebrochen.
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