Ohne das Formular durchzulesen, unterschrieb Frauke das von der Krankenschwester angebotene Blatt Papier. Man sprach von einer Überlebenschance von zehn Prozent. Doch Frauke und Stefan beteten zu Gott, dass ihr geliebtes Mädchen überleben würde. Stasia widerstand dem Tod. Tapfer ertrug sie die auf die Operation folgenden Tage. Der Luftröhrenschnitt war noch rechtzeitig durchgeführt worden. Die Luftröhre hatte sich ohne ersichtlichen Grund zusammengeklebt. Keiner konnte sich erklären, wovon das gekommen war, da es ohne vorherige Anzeichen geschehen war. Schnell heilte die Wunde, und Stasia konnte als geheilt entlassen werden.
In den Jahren danach wuchs Stasia als gesundes fröhliches Mädchen heran, bis kurz vor ihrer Einschulung das Schicksal wieder heftig zuschlug. Bei einer sogenannten „Röntgen-Reihen-Untersuchung” im Dorf wurde bei ihr Tuberkulose festgestellt. Diese Untersuchungen waren in den sechziger Jahren amtlich vorgeschrieben, da noch einige Fälle von TB in der Region nach dem zweiten Weltkrieg aufgetaucht waren.
„Deswegen war es Stasia dauernd schlecht, sie wollte nicht essen und war oft schlapp und müde“, sagte Frauke zum Amtsarzt, als er ihr den Befund mitteilte. Oft hatte Stasia das frisch gekochte Gemüse, welches Frauke extra für sie kochte, verweigert, und sie war immer dünner und nervöser geworden. Stasia selbst hatte sich nicht krank gefühlt und diese Veränderungen nicht bemerkt. Und so schickte man sie auf ärztliches Anraten zur „Erholung” in den Schwarzwald.
„Ja, das ist das Richtige, gute reine Luft, gutes Essen und viel Ruhe“, meinte Stefan beruhigend, als Frauke zweifelte, ihre Tochter einweisen zu lassen. Es sollte nur für sechs Wochen sein. Man brachte sie in ein Sanatorium für kranke Kinder in den Schwarzwald. Stasia war sechs Jahre alt, und viele andere Mitpatienten waren jünger als sie. Es war für Stasia eine Qual, weit weg zu sein. Sie vermisste ihre Eltern, ihren Bruder und ihre Freundinnen. Sechs lange Wochen Erholung. Aus diesen sechs Wochen wurden neun Monate. Für Stasia neun Monate voller Angst und Qual. Sie durfte nicht aus dem Bett und sich nicht anziehen. „Bettruhe” – so sagte man.
„Du musst liegenbleiben, damit du wieder gesund wirst.”
„Warum? Es geht mir doch gut. Ich bin nicht krank.”
Keiner versuchte, das Kind über seinen gesundheitlichen Zustand aufzuklären. Und dazu diese ständigen qualvollen Untersuchungen. Erfolglos versuchten die Ärzte, bei Stasia eine Bronchoskopie durchzuführen. Doch sie konnte diesen ekligen Schlauch nicht schlucken. Sie würgte heftig, schrie und wehrte sich dabei verzweifelt. Ständig verabreichte Spritzen und die undurchsichtigen Gesten der Ärzte während ihrer Visiten versetzten Stasia in Angst und Bange. Keiner gab irgendwelche Erklärungen. Nur:
„Du hast sechs Wochen Verlängerung.“
Dieser immer wiederkehrende Satz prägte sich in das Gehirn von Stasia ein. Sie konnte die Tage und Wochen zählen und wartete jeden sechsten Sonntag auf die von ihr ersehnte Entlassung. Hinzu kamen verordnete „Zwangsliegekuren“ nach dem Mittagessen. Man brachte die Kinder bei fast jedem Wetter auf die überdachte Terrasse im Freien. Sie war ja überdacht, eben gute frische Schwarzwaldluft! Wenn es kalt war, wurden die Kinder auf dem Rücken liegend mit am Körper anliegenden Armen fest in Decken eingewickelt. Das Atmen fiel schwer. Bewegungen waren fast unmöglich. Für Uneingeweihte musste sich wohl ein Anblick von eingewickelten Mumien bieten. Über die Augen wurde die Serviette von den Essenszeiten gebunden, damit die Kinder nichts sehen konnten und schliefen. Oft war Stasias Serviette feucht von ihren stillen Tränen. Kein Mucks durfte von den Kindern ausgehen. Sie mussten schlafen, ob sie müde waren oder nicht. Das wurde streng überwacht. Ein Grauen für alle Kinder.
Das Essen war eine Tragödie für Stasia. Falls nötig, musste unter Zwang der Teller leergegessen werden. Wenn auch unter Tränen. Es war ein christlich geführtes Sanatorium. Geleitet von Schwestern in weißer Ordenstracht. Nicht selten hörte Stasia ein weinendes Kind in dem großen Krankensaal, in dem etwa zwanzig Kinder untergebracht waren. Die Situation schien hoffnungslos. Stasia befürchtete, dass sie hier zur Strafe gefangen war und deshalb in ihrem Bett sein musste, doch sie wusste nicht warum. Sie hoffte, dass, wenn sie groß genug wäre, sie als Erwachsene das Sanatorium verlassen könnte. Doch was, wenn ihre Eltern sie nicht mehr erkennen oder sie nicht mehr haben wollten? Oder nicht mehr lebten, wenn sie zurück wäre? Es war für sie und ihre Mitleidenden ein Albtraum, der kein Ende nehmen wollte. Daran dachte Frauke traurig, als sie in die Vergangenheit blickte.
„Nur noch eine Nacht, mein Mädchen, dann bist du die schönste Frühlingsprinzessin, die die Leute hier im Ort je gesehen haben“, sagte sie leise, bevor auch sie einschlief.
Endlich kam der nächste Morgen. Ein idealer Frühlingstag. Die wärmende Sonne strahlte hell leuchtend durch die Fenster, die Vögel sangen ihre Lieder, der große Tag wartete auf Stasia.
„Sie hat es wirklich verdient, nach allem, was sie durchgemacht hat, und zudem ist sie wirklich ein bildhübsches liebes Geschöpf – unsere kleine Prinzessin“, dachte Frauke glücklich und stolz. Frauke gab sich viel Mühe, ihre kleine „Prinzessin” entsprechend auszustaffieren. Stasia im Kleid, mit den passenden hauchdünnen Handschuhen, das Rosenkrönchen saß perfekt auf dem sorgfältig frisierten Haar.
„Mami, was ist, wenn ich alles falsch mache, lachen dann alle mich aus?”
„Nein, du machst nichts falsch, einfach deshalb, weil du ein gescheites und hübsches Mädchen bist. Alle werden dich beneiden und keiner wird über dich lachen.”
Beruhigt warf sie einen letzten Blick in den Spiegel.
„Jetzt wird es Zeit, Herr Munster steht vor dem Haus und wartet auf dich“, rief Stefan durch die Schlafzimmertür. Auch er war sichtlich nervös. Stolz betrachtete er seine Tochter. Auch Henry pfiff anerkennend durch die Zähne.
„Mensch Stasia, du siehst phantastisch aus, alle werden mich um meine schöne Schwester beneiden.”
Als Stasia die Wohnung verließ, rief Stefan ihr nach: „Wir werden, wenn der Winter verbrannt ist, auf dich am Marktplatz warten. Danach gehen wir zusammen nach Hause.”
Die folgenden Stunden flogen dahin. Stasia saß mit klopfendem Herzen in der mit Rosen ausstaffierten Kutsche, die von zwei prächtigen Schimmeln gezogen wurde. Sie warf die Süßigkeiten, die neben ihr in großen Kisten lagen, den am Straßenrand wartenden Kindern zu. Alle grüßten und winkten ihr zu. Dann war der Strohmann verbrannt, das Fest war zu Ende, und es wurden noch Fotos für die Dorfzeitung geschossen. Herr Munster legte stolz „seiner” Prinzessin den Arm um die Schultern und posierte zufrieden vor der Kamera. Noch ein Foto mit den Eltern, und dann war alles vorbei. Noch benommen von dem Glücksgefühl war Stasia kaum fähig zu sprechen.
„Stasia, das hast du gut gemacht. Du warst einfach eine wirkliche Prinzessin! Wir sind für heute noch bei Oma und Opa eingeladen. Sie wollen alles wissen, und sie wollen dir zur Belohnung ein Geschenk machen. Wenn du dich umgezogen hast, können wir sofort losfahren“, meinte Stefan.
Er war noch genauso überwältigt und glücklich wie auch Frauke. Es war ja auch alles perfekt gelaufen: Stasia hatte ihre Rolle glänzend gespielt, das Wetter war herrlich, der Himmel war blau, und die Sonne strahlte wohlwollend auf die in Aufruhr geratenen Dorfbewohner. Die Erwachsenen zogen sich zurück in das auf dem Platz aufgestellte Festzelt, um zu feiern und zu tanzen. Die Kinder spielten draußen vor dem Zelt miteinander. Doch Stasia war absolut nicht dazu aufgelegt, um zu ihren Großeltern zu fahren. Sie war viel zu aufgedreht und wollte dieses wundervolle Gefühl allein zu Hause ausklingen lassen.
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