Anne, drei Tage vor mir geboren, und ich hätten unseren 55. Geburtstag bestimmt angemessen gefeiert, da bin ich mir sicher. Nun werde ich eben allein ein Glas Wein trinken und ganz kräftig und mit viel rückwirkender Zuneigung an sie denken. Wenn es stimmt, dass es so was wie eine unsterbliche Seele gibt, wird Anne das spüren. Also dann: „Prost Anne! Auf die 55.“
55
Vor drei Tagen bin ich 55 geworden, und am heutigen Samstag wollen wir feiern. Während meiner Vorbereitungen werde ich sehr nervös, obwohl doch Zeit genug und alles überschaubar ist. Einmal fragt Hannes: „Was war das denn wieder für ein Stöhner?“ Den hab ich nicht mal bemerkt. Für das Abendessen hatte ich ursprünglich ein großartiges Menü geplant, unter anderem mit Dingen, die ich noch nie ausprobiert habe, mir aber als Essen für die Gäste gut vorstellen konnte. Doch von Tag zu Tag habe ich alles immer mehr herunter geschraubt. Zum Schluss steht auf dem Plan das, was wir schon oft angeboten haben und von der Zubereitungsart her kennen. Keine Experimente! So viel Mut habe ich am Ende doch wieder nicht. Aufgeräumt und staubgewischt habe ich auch wie ein Weltmeister. Und Zeitungsausschnitte und alles, was sonst noch an Papierkram herumlag, weil es eines Tages noch gelesen werden soll, in eine Tüte gepackt und in die Garage getragen; diese Methode bewährt sich seit Jahren. Es sieht jedenfalls recht aufgeräumt ist. Alles ist vorbereitet, der Besuch kann kommen.
Während unsere Gäste rund um den großen Esstisch sitzen und essen, entdecke ich plötzlich eine beeindruckende Spinnwebe an der Wand. Wieso habe ich die vorher nicht gesehen? Das kleine Tier hat doch sicher wochenlang daran gearbeitet. Aber jetzt ist es zu spät und mir auch mittlerweile egal. Wahrscheinlich kann ich hier noch so viel reinigen, es bleibt immer noch vieles übrig. Unsere Freunde kennen vermutlich längst unsere Schwachstellen, um nicht zu sagen Fettecken. Und der Gedanke beruhigt mich plötzlich ungemein. Nach dem Motto „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert“ proste ich der Tischrunde fröhlich zu. Mir geht es jetzt richtig gut und ich genieße das Zusammensein mit all den netten Leuten.
Im Laufe des Abends wird über alles Mögliche gesprochen, über lustige Begebenheiten und Erlebnisse, die von teilweise großem Gelächter quittiert werden. Es geht auch um Reisen – um bereits erlebte oder welche, die noch bevorstehen. Für unsere Freunde Ines und Peter steht in diesem Jahr eine Reise nach Chile auf dem Programm, mit vielen Schifffahrten an der Küste entlang. So weit weg. Ich weiß nicht, ob ich den Mut hätte, 18 Stunden zu fliegen, um einen anderen, sehr fremden Kulturkreis kennenzulernen. Für Hannes und mich reicht eigentlich schon eine Woche Urlaub an der Ostsee.
Später am Abend geht es aber auch um Zukunftsängste, die doch einige von uns haben. Mehr oder weniger ausgeprägt, vielleicht aber nur mehr oder weniger zugegeben. Bei den Männern scheint alles glatt zu laufen, jedenfalls ist nichts Gegenteiliges zu hören. Sie verziehen sich allesamt in Hannes‘ Büro, wahrscheinlich stehen sie im Halbrund um den Computer herum.
Meine Freundinnen Ines, Annelie, Margret, Anita sowie Silvia und ich können uns daher mal ungestört unterhalten, und ich merke schnell, dass alle sich viele Gedanken darüber machen, was ihnen die Zukunft bringen wird. Annelie, geschieden und allein lebend, befürchtet den möglichen Verlust des Arbeitsplatzes, was bei ihr zu ständigen diffusen Ängsten führt und leider auch zu mancher schlaflosen Nacht. Margret und Anita, beide seit Monaten arbeitslos, wollen die Hoffnung nicht aufgeben, mit ihren 57 bzw. 54 Jahren doch noch mal einen neuen Job zu finden.
Auch sonstige Ängste und bedrückende Gedanken lassen sich bei einer Feier nicht ganz verdrängen, dabei geht es durchweg um gesundheitliche Probleme der unterschiedlichsten Art. Da wir alle uns seit vielen Jahren kennen, wird Klartext gesprochen. Ich staune über die große Offenheit, mit der so manches Leiden in aller Deutlichkeit geschildert wird, nichts wird beschönigt. Und die Schlaflosigkeit, verbunden mit ständiger Grübelei, ist auch allen mehr oder weniger ausgeprägt bekannt. Sicher geht das Reden über solche Dinge nur in einer vertrauten Runde, in der man keine Probleme bekommen kann, wenn man sich allzu sehr öffnet. Am Ende finde ich es sehr beruhigend, zu hören, dass selbstverständlich auch andere Frauen nicht alles gut finden, was mit ihrem älter werdenden Körper passiert. Dabei kann ich vergleichsweise froh sein, dass ich nur Probleme mit den Knien habe und etwas schlecht höre.
Aber wir sprechen auch von Träumen, die vielleicht doch noch erfüllt werden können. Annelie sagt: „Mein Traum war immer, später eine Wohnung am Rhein zu haben. Irgendwo, mit einem Balkon. Und von da aus nochmal aufs Neue meine Stadt zu erkunden.“ „Vielleicht eine Alten-WG?“ fragt Silvia. Obwohl sie die Jüngste am Tisch ist, denkt sie oft an ihre späteren Jahre. In dem Zusammenhang erwähne ich ein Buch, welches ich kürzlich gelesen habe: „Die letzte Strophe“ von Christine Brückner. Darin geht es um eine Alten-WG mit interessanten Einblicken in ein nicht vollständig perfekt funktionierendes Zusammenleben älterer Menschen. Nur ein Roman, aber durchaus vorstellbar.
Ich selbst komme zu dem Schluss, dass nicht jeder Mensch für diese Art des Wohnens geeignet ist. Für mich wäre die Vorstellung fürchterlich, dass jeder, dem das gerade einfällt, einfach so bei mir an die Tür klopfen könnte, um zu quatschen, nur weil ihm oder ihr gerade danach ist. Was wäre, wenn ich mir gerade was ganz anderes vorgenommen oder schlicht keine Lust aufs Zuhören hätte? Auch der Gedanke, dass dann nur alte Leute um mich herum wären, gefällt mir nicht. Eine Kombination aus jung, mittelalt und alt wäre doch viel sinnvoller und zweifellos belebender. Meine Idee wäre die Gestaltung von Häusern, die für Alte und Junge gemeinsam konzipiert sind – jeweils einzelne, in sich abgeschlossene und unabhängige Wohnungen.
Es ist 1.30 Uhr. Die Feier ist vorbei und die Gäste sind gegangen. Das Essen war, glaube ich, gut. Gereicht hat es jedenfalls für alle, und unsere Freunde waren offenbar zufrieden mit dem, was wir anzubieten hatten. Es wurde viel geredet, auch viel gelacht. Warum nur habe ich mir vorher wieder so viele Gedanken gemacht, ob alles gut wird?
Einem Zeitungsartikel zufolge bietet die Sporthochschule Köln für Leute meines Alters sportliche Übungen, einschließlich Hanteltraining und Fitnessübungen, an. Wäre das nicht was für mich? Immerhin behaupte ich seit Jahren, ich wolle mehr für meine Beweglichkeit tun. Übers Internet finde ich heraus, dass für Menschen nach Krebserkrankung, Schlaganfall, Herzinfarkt oder mit sonstigen Funktionsstörungen einiges an Kursen geboten wird. Aber ganz allgemein für Leute ab 50? Da entdecke ich nichts. Meine Augen streifen schließlich das Wort Seniorengymnastik. Auf einmal dämmert mir, dass die auch jemanden wie mich damit meinen. Nein danke, als Seniorin fühle ich mich noch nicht. Sollen die älteren Herrschaften da mal alleine herum turnen. Außerdem finden die Übungen an Vormittagen statt, da sitze ich üblicherweise an meinem Arbeitsplatz.
An einem Donnerstag Ende Mai möchte ich einen Krankenbesuch bei unserer Freundin Rosemarie machen. Einen Besuch, vor dem ich mich ein wenig fürchte. Daher fallen mir allerhand Dinge ein, die unbedingt noch getan werden müssen, bevor ich das Haus verlasse. Auch Fussy wird noch ausführlich gestreichelt, wofür die Katze sich mit heftigem Schnurren bedankt. Schließlich warte ich noch einen kräftigen Wolkenbruch ab. Danach finde ich keine Ausrede mehr und mache mich endlich, wenn auch ein wenig beklommen, auf den Weg zum Krankenhaus.
Als ich vor Rosemaries Krankenzimmer stehe, bin ich schrecklich nervös und wage nur ein zaghaftes Klopfen an der Tür. Ich trete ganz vorsichtig in den Raum und bin überrascht. Sie sitzt ganz entspannt im Schneidersitz auf ihrem Bett – und strahlt mir bestens gelaunt entgegen. Damit hätte ich nicht gerechnet. Ich wirke vermutlich bedrückter als sie selbst. Vor einer knappen Woche hat Rosemarie eine Brustkrebsoperation überstanden.
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