Der Winter geht mir allmählich auf die Nerven, aber es ist erst Anfang März; der Frühling lässt noch auf sich warten. Nachdem ich zwei Tage lang missmutig zuhause vor mich hin gebrasselt und ansonsten viel Musik gehört habe, folgt heute eine für mich echte seelische Aufmunterung in Form eines französischen Spielfilms. Hannes und ich gehen ins Kino und sehen „Ein gutes Jahr.“ Der Film handelt von einem Briten, welcher plant, in Südfrankreich sein geerbtes Haus zu verkaufen, sich dabei aber in Land und Leute verliebt und schließlich bleiben will. Schöne Aufnahmen vom Leben in der Provence, bei stets gutem Wetter und einer Fülle von Natur rundum, blühend in vielen Farben und Formen. Erinnerungen an Reisen nach Südfrankreich werden wach, schöne Erinnerungen. Und der Film schafft es tatsächlich, mich wieder in richtig gute Laune zu versetzen. Endlich ist meine miese Stimmung vorbei. Zwar haben Hannes und ich nach dem Kinobesuch leichte Probleme damit, wieder ins Kölner Leben zu finden; kein schönes Wetter, triste Farben auf den Straßen, und alles ist eher grau und langweilig, aber die wunderbaren Bilder des Films wirken trotzdem noch lange positiv nach. Auf dem Heimweg denken wir an vergangene Frankreichurlaube, besonders eine Situation kommt mir in den Sinn:
„Weißt Du noch,“ frage ich Hannes, „wie wir vor vielen Jahren mal zum Camping in Südfrankreich waren und vergessen haben, für Dich die Lederjacke mitzunehmen?“
„Ja klar, Du hattest vergessen, die für mich einzupacken.“
„Ich war das schuld? Na egal, jedenfalls hast Du abends vor dem Zelt gesessen und gelesen, in Jeans, T-Shirt und dem Jackett vom blauen Nadelstreifenanzug. Das war komischerweise mit auf die Reise gegangen. Sah seltsam aus.“
„War mir egal, wie das aussah. Hauptsache, mir war nicht kalt.“
„Die Leute, die abends über den Zeltplatz spazierten und bei uns vorbei kamen, haben jedenfalls immer gegrinst, wenn sie Dich in den Klamotten da sitzen sahen. Und es hatte sich bestimmt rumgesprochen, es kamen nämlich von Abend zu Abend mehr Leute bei uns vorbei.“ Hannes guckt erst leicht ungläubig, doch dann müssen wir beide lachen.
Morgen geht es los. Mein Abnehmprogramm steht. Eigentlich ist es gar keins, denn ich möchte mich darauf beschränken, insgesamt weniger auf meinen Teller zu tun und damit automatisch weniger zu essen. Außerdem nur ein oder, wie verwegen, vielleicht gar kein Glas Wein abends. Ansonsten die Süßigkeiten weglassen und mich viel mehr bewegen.
Klingt ganz einfach. Doch heute, gewissermaßen zum Abschied, möchte ich mir noch einmal etwas Süßes gönnen. Und wenn schon, dann richtig. Vor mir liegen sechs belgische Pralinen. Schon beim vorsichtigen Auswickeln bin ich begeistert vom Duft, der mir da entgegen schwebt. Als ich das Papier auseinander reiße, weil ich viel zu ungeduldig bin, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Kurz den Duft dieser Schokolade einatmen und genießen und ein erster zaghafter Biss. Noch einer, und gleich danach schiebe ich mir die komplette Praline in den Mund und fange an zu kauen. Ist das lecker. Mir kommt der ärgerliche Gedanke, dass die besonders schmackhaften Dinge fast immer ungesund und somit verboten sind. Diese hier sind verboten, weil sie dick machen. Zwar sind ein oder zwei dieser Köstlichkeiten nicht schlimm, aber drei, vier, fünf oder noch mehr davon sind es. Und ich gebe nicht eher Ruhe, bis alle sechs Pralinen vertilgt sind. Wie viele Kalorien das jetzt wohl sind? Ich spüre förmlich meinen Bauch dicker werden, aber vielleicht dehnt sich ja nur mein schlechtes Gewissen aus. Jetzt habe ich wirklich allen Grund, morgen mit meiner Diät anfangen zu müssen.
Nur wenige Tage später muss ich feststellen, dass ich mich zwar überwiegend an meine persönlichen Diätvorschriften halte, es aber leider nicht sonderlich gut klappt. Nicht nur, dass meine Gedanken andauernd um die nächste, wenn auch bescheidene Mahlzeit kreisen, ich habe dazu auch noch erhebliche Probleme mit dem Kreislauf. Außerdem ist meine Laune denkbar schlecht. Ich blaffe alle Leute an, die mir irgendwo im Wege stehen oder vor mir nicht schnell genug aus der Straßenbahn aussteigen. Schnell tut mir das jedesmal leid, aber gesagt ist gesagt; mein ruppiger Tonfall ist nicht überhört worden. So geht es also nicht.
Ob ich es jetzt endgültig aufgebe? Wirklich kein Versuch mehr, doch noch ein paar Kilo abzunehmen? Es hat in meinem Leben schon so viele derartige Anläufe gegeben, es hat aber auch über all die Jahre nicht nennenswert geklappt. Vielleicht mal ein Kilo weniger, welches sich kurze Zeit später schon wieder auf der Waage zeigte. Einerseits finde ich den Gedanken befreiend, nicht mehr darben zu müssen, andererseits ist es für mich aber das Eingeständnis einer absoluten Niederlage. Nach längerem, ziemlich unzufriedenem Nachdenken über das leidige Thema will ich wenigstens versuchen, nicht noch schwerer zu werden.
Abends wollen Hannes und ich uns einen Fernsehfilm ansehen, genauer gesagt, wir versuchen es. Doch nach wenigen Minuten geben wir entnervt auf. Immer öfter nämlich, so auch heute, haben wir Probleme damit, die Worte der Darsteller zu verstehen, da die ständige Hintergrundmusik so laut ist. Wenn wir die Lautstärke erhöhen, wird folglich auch die Musik lauter. Ein großes Ärgernis. Das Ärgernis hat aber nach dem Abschalten des Fernsehers zur Folge, dass wir uns an den Esstisch setzen und mal wieder so richtig schön miteinander ins Gespräch kommen. Kein ernstes Gespräch, es geht bloß um das, was wir an den vergangenen Tagen erlebt haben und worüber wir uns amüsieren konnten. Aber immerhin.
Es ist der 18. März. Heute wäre meine älteste Freundin Anne 55 Jahre alt geworden. Über 40 Jahre kannten wir uns. Wer weiß, vielleicht hätte mir die Freundschaft mit ihr, trotz ihrer in den letzten Jahren erheblichen Alkoholprobleme, gut getan. Ihr hätte ich bestimmt so mancherlei anvertraut, was ich niemandem sonst, weder im Familien- noch im Freundeskreis, habe sagen können oder wollen. Anne war immer bereit, zuzuhören und hat mich und meine kleinen und mitunter auch großen Probleme stets ernst genommen und mir manchen guten Rat gegeben.
Sie, die in der Schule in den meisten Fächern bessere Noten hatte als ich, hat zwar mit großem Interesse den Beruf der Chemielaborantin erlernt, war aber kaum ein Jahr nach Beendigung ihrer Ausbildung der Meinung, nun unbedingt heiraten zu wollen. Holger. Einen Mann, für den ich nicht viele Sympathien hatte. Schon bald nach der Hochzeit hat sie sich dazu entschlossen, nur für ihn, den erfolgreichen Handelsvertreter mit gutem Einkommen, da sein zu wollen. Einkaufen und kochen, den Haushalt führen, putzen, die Kleidung in Schuss halten und so weiter. Ja, was denn noch weiter?
Spät erst stellte sie fest, dass da ja weiter nichts kommen würde. Kinder wollten beide nicht. Vermutlich ohne es selbst wahrzunehmen fiel sie möglicherweise in eine gewisse Resignation: auch ihr Freundeskreis, und damit auch ich, merkte lange Zeit nichts. Und irgendwann in dieser Zeit wurde der Alkohol ihr Tröster. Vielleicht hat an manchem Abend ein Gläschen Wein für eine bessere Stimmung gesorgt, am nächsten Abend waren es zwei oder drei Gläser, und die Laune wurde sogar noch besser. Zwischendurch auch mal ein Whisky, der ja die Sinne, die Gedanken und all das oben im Hirn noch schneller ankurbeln oder aber auch durchkreuzen kann. Und dann gab es kein Aufhören mehr, dafür aber von Tag zu Tag ein früheres Anfangen. Nur schemenhaft ist mir in Erinnerung, was Anne mir vor vielen Jahren mal erzählt hat in Bezug aufs Trinken, ganz speziell auf ihr Trinken. Bewusst war ihr schon, dass das alles nicht in Ordnung war, nur der konkrete Wille fehlte, etwas an der Situation zu ändern. „Wozu denn?“ fragte sie und hatte dabei einen unglaublich traurigen Blick.
Jetzt ist sie schon seit fast zehn Jahren tot, und es gibt noch nicht mal ein Grab, welches ich besuchen kann. Ihr Mann hatte uns nach ihrem Tod nicht darüber in Kenntnis gesetzt. Erst als ich nach monatelangen, stets vergeblichen Anrufen einen Brief an Anne geschrieben hatte, bekam ich von Holger ein Antwortschreiben, welches aus nur wenigen Sätzen bestand. Anne habe sich einer eher belanglosen Operation unterziehen müssen, aus der sie nicht mehr erwacht war. Anonyme Bestattung. Sonst nichts. „So kanns kommen.“ war Holgers lapidare Schlussbemerkung in seinem Brief.
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