Kurz darauf ein Wintertag, leicht verschneit ist alles. Morgens, kurz nach acht, sitze ich in meiner Bahn Richtung Innenstadt und sehe wunderschöne Dinge: Bäume und Sträucher sind weiß garniert, wie mit Puderzucker bestreut sieht alles aus. Am Himmel Kondensstreifen in allen Variationen, einige in klaren Linien, andere schon leicht verwischt. Der Himmel ist zartblau und die Sonne scheint noch sehr blass daraus hervor. Diverse Vögel sind unterwegs, die durch ihr Herumflattern das Bild noch auflockern. Heute werden wir den Tag über sicher eine gute, klare Luft haben. Richtig schönes Winterwetter also. Aus vielen Schornsteinen der Häuser, an denen die Straßenbahn vorbeifährt, sieht man langsam nach oben steigenden Dampf. Und so manche Flachdächer machen den Eindruck, als hätte jemand weiße Tücher oben drüber gelegt. Auf einem Balkon hängt Wäsche. Ob sie gefroren ist? Sofort fällt mir die Geschichte ein, die Hannes erzählt hat aus seiner Jugendzeit: Omas Wäsche hing auf dem Balkon und war gefroren. Schulfreund Martin sah das, überlegte nicht lange und zerbrach eine von Omas Unterhosen. Einfach so. Er war selbst erschrocken und hatte nicht geahnt, dass das so leicht gehen würde. Nette kleine Geschichte. Und ich sitze schon wieder da und grinse vor mich hin.
Einige Wochen lang war ich nach Büroschluss zweimal wöchentlich bei meiner Mutter. An einem Tag habe ich für sie eingekauft und den Müll runter getragen und drei Tage später die jeweils erforderliche Putzerei hinter mich gebracht. Wochenlang hatte ich eine Erkältung, die mir regelrecht die Kräfte raubte, und es war mir zuviel, alles zusammen an nur einem Nachmittag zu bewerkstelligen, nach einem womöglich noch anstrengenden Vormittag im Büro. Nun möchte meine Mutter, dass ich wieder bloß einmal in der Woche komme.
„Du setzt Dich selbst unter Druck.“ glaubt sie.
Ja, kann schon sein, aber ich möchte ja nicht nur meine Aufgaben etwas entzerren, sondern habe zusätzlich auch das Gefühl, öfter bei ihr sein zu müssen! Sie ist doch ansonsten meist allein. Seit dem Tode meines Vaters vor fast 25 Jahren lebt sie in ihrer Wohnung in der Kölner Innenstadt. Ab und zu kommt eine Freundin für ein, zwei Stunden auf einen Kaffee oder eine Nachbarin klingelt, um kurz hallo zu sagen.
Vor zehn Jahren war meine Mutter über eine defekte Gehwegplatte gestolpert und gestürzt, bepackt mit zwei Einkaufstüten, welche sie keinesfalls loslassen wollte, denn der Inhalt hätte ja Schaden nehmen können. Nachdem Wochen später der Bruch der Kniescheibe verheilt war, hatte sie weiterhin Probleme mit dem Gehen, und der größte Fehler, den ich machen konnte, war das Besorgen eines Rollators. Nur für ein paar Wochen, dachte ich. Dass aus dieser Gehhilfe ein ständiger Begleiter werden würde, weil meine Mutter sich fortan weigerte, ohne dieses Hilfsmittel sogar in der Wohnung auch nur einen Schritt zu gehen, konnte ich nicht ahnen.
„Ich muss schließlich selber wissen, was ich tue.“ Mit ähnlichen Worten kommentierte sie es stets, wenn ich das alles mal wieder in Frage stellte und es auch noch wagte, Worte wie Knieoperation oder Krankengymnastin auszusprechen. Es hat lange gedauert, bis ich die Unmöglichkeit akzeptieren konnte, sie eines Tages doch noch umstimmen zu können. Oft hätte ich mir nicht nur in diesem Zusammenhang gewünscht, Geschwister zu haben, dann wäre der Verantwortungsdruck, den ich zu haben glaube, vielleicht leichter gewesen.
Meine Mutter (77) ist stolz darauf, die wesentlichen Dinge im Haushalt alleine bewältigen und sich selbst und ihre Kleidung in Schuss halten zu können. Auch das Kochen fällt ihr nicht schwer, denn dann setzt sie sich vor dem Herd auf die Sitzfläche des Rollators und hat beide Hände frei für die Herstellung ihrer Mahlzeiten. Tätigkeiten wie einkaufen, staubsaugen oder putzen erledige ich. Besonders wichtig ist es für sie, dass niemand ihr vorschreibt, was sie zu tun oder zu lassen hat. Jegliche Form von Bevormundung ist ihr zuwider, was ich regelmäßig schon dann merke, wenn ich einen Vorschlag mache, wie sie dies oder jenes in ihrem Alltag einfacher oder besser handhaben könnte. Wenn meine Mutter die Idee nicht gut findet, und das ist häufig der Fall, funkeln ihre braunen Augen mich böse an, und sie wedelt abwehrend mit den Händen in der Luft herum, so dass ihre schmale Gestalt plötzlich etwas Dramatisches bekommt. „Bloß nicht.“ ist dann die Standardantwort.
Meiner Mutter ist es gelungen, alle erforderlichen Dinge fürs tägliche Leben griffbereit und praktisch auf ihre drei Zimmer zu verteilen. Ihre helle Wohnung, die Zimmer voller Pflanzen, auf deren Pflege sie viel Sorgfalt verwendet, ist ihre Welt. Mit ihrem Leben ist sie ganz zufrieden, wie sie immer wieder versichert. Ihr täglicher Gast, so drückt sie es selber aus, ist das Fernsehen, sie liebt Filme und Fernsehspiele und hat auch Interesse an politischen Sendungen. Fast noch wichtiger aber sind für sie Bücher. Wenn ich einen neuen Stapel aus der Stadtbücherei heranschaffe, kann sie sich richtig freuen. Und ich habe den Eindruck, dass sie froh ist, wenn ich endlich wieder gehe, weil sie dann gleich mit einem neuen Buch beginnen kann.
Tage später stelle ich fest: Ich sollte (mal wieder) abnehmen. Und letztens habe ich gelesen, dass man vor Beginn einer Diät die Schränke ausmisten und alten Kram wegwerfen soll; das würde die innere Bereitschaft steigern, sich von unnötigem Ballast zu trennen. Und ich habe fast eine Woche lang ausgemistet. Was da alles zum Vorschein kam: Hosen, die ich für Renovierungsarbeiten aufbewahrt hatte. Zwei Blusen, an denen die Ärmel zu lang sind und die ich schon seit Jahren kürzen will. Beim Anprobieren stellte ich fest, dass die Blusen sich gar nicht mehr zuknöpfen lassen. Laufen Sachen im Kleiderschrank ein? Gleichfalls in die Mülltonne wanderten: Diverse Kosmetikproben, die ich immer voller Freude in den Zeitschriften entdecke, sorgfältig heraus trenne, um sie dann im Badezimmer in einer Keramikschüssel verstauben zu lassen. Mindestens zwanzig Einzelsocken, deren Partner auf seltsame Weise abhanden gekommen waren. Und ein paar Cowboystiefel, die mir von Jahr zu Jahr toller vorkommen, aber gar nicht mehr passen. Ich glaube, in den Stiefeln sähe ich inzwischen auch ein bisschen albern aus. Es ist wirklich erstaunlich, was man über die Jahre noch zu brauchen glaubt. Im Wäscheschrank fand ich außerdem zwei verwaschene Kinderbadetücher, und trotz leicht wehmütiger Gedanken entschloss ich mich, auch diese auszusortieren. Plötzlich fielen mir zwei alte Bravo-Hefte in die Finger. Meine erste Zwangspause, denn die Zeitschriften wollte ich sofort durchblättern. Der Winnetou-Starschnitt. So wohnen die Beatles. Mary Quant. Die Carnaby-Street. Dazwischen Heintje. Geschichten und Fotos wie aus einer anderen Welt. Später entdeckte ich einen Pappkarton, auf dem in Kinderschrift stand „Jedes Buch eine Mark.“ Ein danach nie mehr ausgepackter Karton von einem Kinderflohmarktbesuch; bestimmt mehr als zehn Jahre her. Beim Durchforsten des Inhalts entdeckte ich diverse Pferdebücher – eine Zeitlang gab es für Britta kaum andere Literatur. Aber im Karton fand ich auch „Die rote Zora“, eins der Lieblingsbücher meiner eigenen Kindheit. Am Ende habe ich nicht nur den Mülleimer gut gefüllt, sondern auch vier große Plastiktüten voller Klamotten zum Altkleider-Container gebracht; alles Kleidungsstücke, die wir Jahre lang nicht mehr getragen hatten. Den Gang zum Container konnte ich immer nur dann antreten, wenn Hannes nicht daheim war, denn er hätte sonst nachprüfen wollen, was ich da wegwerfen will. Den in derlei Zusammenhängen üblichen Satz „können wir doch noch brauchen“ wollte ich diesmal nicht hören.
Heute Abend nun habe ich etwas Besonderes vor: Ich beginne mit dem Lesen der „roten Zora“, trinke dazu ein leckeres Glas Rotwein – meine Diät hat ja noch nicht begonnen, geplant ist Anfang März – und höre im Hintergrund eine CD, die ich während meiner Aufräumerei auch wieder entdeckt habe, ein wunderbares Album des italienischen Sängers Paolo Conte. Die Kinderhandtücher allerdings liegen wieder im Schrank, ganz unten. Ich habe es am Ende doch nicht fertig gebracht, die tatsächlich auszumustern.
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